💡 Peter Jungblut beobachtet für BR24 Kultur die Debatten hinter den Meldungen rund um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dazu verfolgt er russische Medien, Telegram-Kanäle und Social Media, und wertet die Einschätzungen / Stimmen dort dazu feuilletonistisch aus und ordnet ein. So zeigen wir, wie Millionen Menschen innerhalb der russischsprachigen Welt über die Ereignisse diskutieren.
Über mangelnden Spott kann Putin derzeit nicht klagen: "Ein weiterer geostrategischer Sieg", heißt es in der St. Petersburger Zeitung "Fontanka" ironisch zur aktuellen Krise des Assad-Regimes in Syrien, das sich einer Offensive von angeblichen "Dschihadisten" erwehren muss und zu den wenigen "Verbündeten" Russlands gehört. "Somit sind alle russischen Bemühungen und Ausgaben seit 2015 umsonst gewesen", hieß es düster und es wurde sogar gefordert, Russland möge alle Stützpunkte in Syrien verlassen – bevor es zu spät sei.
"Noch vor drei Tagen gingen Assads Sicherheitsbeamte mit einem Schlagstock durch die Basare in der Nähe der Zitadelle von Aleppo und verbreiteten Angst und Schrecken, scheinbar bis in alle Ewigkeit. Was für eine Lektion", schreibt der russische Politologe Andrei Nikulin über die unübersichtliche Lage in der syrischen Millionenstadt. Offenbar ist das Assad-Regime dort nicht mehr Herr der Lage, was bei russischen Beobachtern Entsetzen auslöste. Schon die Sowjetunion stationierte in Syrien Truppen und sah sich als Schutzmacht. Assad soll hilfesuchend nach Moskau geeilt sein – es gibt allerdings weder eine offizielle Bestätigung, noch Dementis.
Kommen Russland "Verbündete" abhanden?
Nikulin fragt sich, welche Folgen die drohende Blamage für Moskau haben wird: "Syrien war ein klares Vorzeigeprojekt für Russlands Export seiner 'Sicherheitsdienste', nach der Devise: 'Wir werden zu Ihnen kommen und Sie schnell, kraftvoll und mutig retten, während die westliche Welt träge in der Nase popelt.' Wie stark die Nachfrage nach solchen Dienstleistungen aus Moskau nach dem Fall von Aleppo rückläufig sein wird, vor allem in den afrikanischen Ländern, in denen Russland seit den vergangenen Jahren engagiert ist, ist eine separate Diskussion."
Ähnlich argumentiert ein Telegram-Portal mit 561.000 Fans: "Die Niederlage in Syrien wird zur Folge haben, dass 'befreundete' Regime im globalen Süden, wo sie nur die Sprache der Gewalt verstehen, beginnen werden, Russland von der Fahne zu gehen und nach anderen Gönnern, auch im Westen, zu suchen." Möglicherweise seien Brasilien und China schon dabei, sich hinter Putins Rücken auf dieses Szenario vorzubereiten.
"Lockern Sie Ihre Position zur Ukraine"
Dmitri Drise, der Kolumnist des Wirtschaftsblatts "Kommersant" erwartet, dass Putin außenpolitisch massiv unter Druck gerät: "Es kann vorkommen, dass die Konditionen für Sie nicht optimal sind. Eine weitere Trumpfkarte erscheint in den Händen unserer zahlreichen Gegner und sogar zeitweiliger Verbündeter. Sie könnten sagen: Wir werden Ihren Assad vielleicht nicht stürzen, aber natürlich werden wir eine Gegenleistung dafür verlangen, und Sie werden möglicherweise hier und da nachgeben müssen. Lockern Sie zum Beispiel Ihre Position zur Ukraine, denn alles auf dieser Welt ist miteinander verbunden."
"Beschämende Kapitulation"
Es falle schwer, im Nahen Osten den Überblick zu behalten und Freund und Feind zu sortieren, so der in London lehrende Politologe Wladimir Pastuchow: "Generell herrscht das Gefühl vor, dass verschiedene Kriegsschauplätze miteinander verschmelzen. Im wahrsten Sinne des Wortes."
Boris Roschin, mit 891.000 Fans einer der wichtigsten kremltreuen russischen Militärblogger, verweist darauf, dass dem Kreml ein "schwerer Image-Schaden" drohe, wenn er Assad nicht an der Macht halten könne. Roschin spricht bereits von einer "beschämenden Kapitulation" der syrischen Regierungstruppen in Aleppo: "Es macht keinen Sinn, hier [den Verbündeten Assads] Iran oder Russland die Schuld zu geben, wenn die syrische Armee die zweitgrößte Stadt des Landes einfach nicht verteidigt."
"Interessen nur noch mit Gewalt schützen"
Polit-Blogger Alexander Schartschenko zeigt sich entsetzt über die Destabilisierung des Assad-Regimes in Rekordzeit, ungeachtet von Putins Unterstützung: "Nach alter Tradition verließen wir uns auf die russische Flagge und deren Autorität. Wir sagten uns, wenn unser Posten die Trikolore aufzieht, werden die Militanten keinen Angriff wagen. Schließlich stehen hinter unseren Bannern die Vereinbarungen mächtiger Menschen!"
Das System der internationalen Beziehungen und Abkommen breche jedoch rapide zusammen: "Von nun an können Interessen nur noch mit Gewalt geschützt werden. Vereinbarungen werden nur dann eingehalten, wenn sie bei Verstößen hart geahndet werden. Das gilt nicht nur in Syrien, sondern auch in Russland."
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