Nach einem Konzert warf er sich gern eine Lederjacke über, ging in schwule Clubs und ließ dort nichts anbrennen. Der Kettenraucher, Whisky-Liebhaber und (verheiratete!) bisexuelle Genussmensch Leonard Bernstein war zeit seines Lebens viel mehr als Komponist, Dirigent und Ausbilder: Er nahm sich Freiheiten, engagierte sich für Bürgerrechte, bezweifelte den amerikanischen Traum und reiste als jüdischer Künstler bereits im Mai 1948 nach München, ausgerechnet in die vormalige Hauptstadt der NS-Bewegung, um dort Schumann und Ravel zu dirigieren. Berührungsängste kannte er demnach nicht, und Bayern fand er großartig. 100 Jahre wäre Bernstein am 25. August dieses Jahres geworden – genug Anlass, ihn zu feiern und sein Werk zu befragen.
Enthusiasmus bei der "West Side Story"
Musical-Profi Hardy Rudolz hatte dazu mit den Studenten der Theaterakademie August Everding einen sorgfältig und amüsant choreographierten bunten Abend im Münchener Prinzregententheater eingerichtet, der vom Publikum entsprechend wohlwollend aufgenommen wurde. Enthusiastisch waren die Zuschauer aber nur bei den Nummern aus der „West Side Story“ – neben der Ouvertüre zu „Candide“ dem einzigen Werk, mit dem Bernstein auf den Spielplänen heute noch präsent ist. Seine Sinfonien werden inzwischen selten interpretiert, Musicals wie „Wonderful Town“ (1953) oder „1600 Pennsylvania Avenue“ (1976) tauchen nur noch im Rand-Repertoire auf, seine Opern sind völlig vergessen.
Er prägte die fünfziger Jahre
Bemerkenswert bei einem Mann, der bis zu seinem Tod 1990 in der klassischen Musik allgegenwärtig war, Wagner und Mahler dirigierte und nicht nur mit seinen athletischen Sprüngen am Pult nachhaltigen Eindruck hinterließ. Doch der Abend im Prinzregententheater zeigte: Bernstein prägte als Komponist vor allem die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts, und die sind inzwischen nicht nur musikalisch ferne Vergangenheit. Ausstatterin Angelika Höckner hatte denn auch alle Mitwirkenden in Petticoats und Jeans gesteckt. Das sah farbenfroh und verspielt aus, aber auch allzu brav und bieder. So waren die Fünfziger – aber war so auch Bernstein? Eher nicht.
"I Am Easily Assimilated" bleibt aktuell
Es fehlte die ätzende Satire, etwa in den Ausschnitten aus dem Anti-Spießer-Stück „Trouble in Tahiti“ (1952). Doch es sollte ja eine Geburtstagsfeier werden, und die gelang prächtig. Die russische Mezzosopranistin Natalya Boeva sang ganz herrlich verschroben „I Am Easily Assimilated“, ein Song, wie er nicht aktueller sein könnte. Daniel Wagner als tumber Football-Spieler an einer amerikanischen Elite-Universität begeisterte ähnlich wie Miriam Neumaier als Conga tanzende Reporterin inmitten von Matrosen. Auf Unterhaltung verstand sich Bernstein, aber gerade die altert eben sehr viel schneller als das ernste Repertoire. Auch die meisten anderen Musicals aus der Zeit sind ja längst eingestaubt, die Instrumentation wirkt altbacken, die Texte mitunter betulich. Leider geriet auch manches schmeichelhaft gemeinte Bernstein-Zitat im Prinzregententheater allzu salbungsvoll.
New Yorker Wirbelwind
Dabei zeigen seltene Inszenierungen etwa von "Candide" (2017 in Weimar), dass Bernstein durchaus noch scharfe Ironie für unsere Tage bereit hält. Allerdings muss er gründlich modernisiert werden, Regisseure brauchen mehr optische Fantasie als bei wesentlich älteren Operetten. Dennoch: Zum runden Jubiläum hat der New Yorker Wirbelwind so eine jugendfrische Revue wirklich verdient. Dirigent Wayne Marshall war mit dem Münchener Rundfunkorchester des BR prächtig aufgelegt, und weil das Orchester ausnahmsweise hinter den mikrofonverstärkten Sängern spielte, stimmte auch die Balance. Geradezu lässige Wortverständlichkeit ohne Überanstrengung bei allen Beteiligten: Da machte es Spaß, zuzuhören.
Wieder am 17., 18. und 20. Februar 2018.