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Kriegsende 1945 | Vertreibung Auf der Suche nach einem neuen Zuhause

Sie kamen aus dem Osten. Sie kamen in Scharen. Sie waren verzweifelt und suchten Unterkunft, Brot und Sinn bei Menschen, die selbst danach suchten. Entsprechend rau war der Empfang. Dass die Heimatvertriebenen zum "vierten bayerischen Stamm" und ihre Geschichte zur Erfolgsgeschichte werden würde, ahnte niemand.

Von: Ulrike Herm, Michael Kubitza

Stand: 09.04.2015 | Archiv

Flüchtlinge an der innerdeutschen Grenze bei Hof, 1948 | Bild: Kurt Schraudenbach/Süddeutsche Zeitung Photo

Sie kamen auf Pferde- und Ochsentrecks, in Vieh- und Güterwaggons oder zu Fuß. Sie flohen vor der Roten Armee, wurden vertrieben von den neuen Herren in Polen, der Tschechoslowakei oder Jugoslawien. Sie bekamen die Rache der Sieger zu spüren, egal, ob sie persönliche Schuld auf sich geladen hatten oder nicht. Vor 60 Jahren setzte aus den deutschen Ostgebieten ein Massenexodus nach Restdeutschland ein - rund 15 Millionen Deutsche verloren ihre Heimat, geschätzte 500.000 bis 600.000 Menschen starben auf der Flucht.

Treibgut des Krieges

Auch in Bayern landeten in den ersten Monaten des Jahres 1945 Zigtausende von Flüchtlingen und Vertriebenen. Wie viele es genau waren, lässt sich nicht nachvollziehen. Und mit offenen Armen wurden die Flüchtlinge aus dem Sudetenland, aus Schlesien, Ostpreußen oder dem Baltikum wahrlich nicht aufgenommen. Dazu war die Lage viel zu chaotisch - zu den Vertriebenen kamen die Ausgebombten, die ehemaligen KZ-Häftlinge, und viele andere Heimatlose. Alle suchten nach Unterkunft und Versorgung. Die Vertriebenen hatten wie viele andere Kriegsverlierer zumeist traumatische Erlebnisse hinter sich.

Vor den Russen flohen viele Ostpreußen bereits seit dem Herbst 1944. Die Masse der Flüchtenden und Vertriebenen kam allerdings erst nach Kriegsende. Im August 1945 bechlossen die Siegermächte auf ihrer Konferenz in Potsdam im August 1945 die "humane und ordnungsgemäße Umsiedlung" aller Deutschen aus Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei. Doch "human und geordnet" war das Gegenteil von dem, was die Flüchtlinge und Vertriebenen erlebten. Sie bekamen vor allem die Rache der Sieger zu spüren: Demütigungen, Misshandlungen, Vergewaltigungen, Morde.

"Der schrecklichste Krieg der Geschichte geht in den fürchterlichsten Frieden über"

Das US-Magazin 'Time' 1945 in einem Bericht über Osteuropa

Die "Landsmannschaften"

Sudetendeutsche

Aus dem Sudetenland kam der Großteil der Flüchtlinge und Vertriebenen in Bayern. Drei Millionen Menschen wurden durch die Benes-Dekrete enteignet und vertrieben. Rund 270.000 Sudetendeutsche starben durch die Vertreibung. In der neuen Heimat erlebten sie häufig Ablehnung durch die Einheimischen. So blieben viele unter sich.

Schlesier

In Schlesien lebten rund 4,6 Millionen Deutsche, die Vertreibung nach dem Krieg war nahezu total, nur in Oberschlesien wurde wenige deutsche Bergleute aus ökonomischen Gründen zurückgehalten. In Bayern hatten die Schlesier nicht nur wegen eines anderen Zungenschlags, auch wegen der vorwiegend evangelischen Konfession einen schweren Stand.

Ost- und Westpreußen

Sie waren die ersten, die ihre Koffer packen mussten: Bereits im Herbst 1944 flohen viele Ostpreußen vor den Russen. Nach der Januar-Offensive 1945 ist Ostpreußen nagezu vollständig besetzt. Mit dem Potsdamer Abkommen kommt der südliche Teil unter polnische Verwaltung, der nördliche wird zusammen mit Königsberg der Sowjetunion unterstellt wird.

Donauschwaben

Rund 500.000 Donauschwaben lebten bei Kriegsende im heutigen Kroatien. Nach dem Einmarsch der Sowjets ließen viele kommunistische Partisanen ihren Hass an den Deutschen in der Batschka, dem Banat oder Baranja-Dreieck aus. Die meisten wurden enteignet und in Arbeits- oder Konzentrationslagern interniert. 50.000 überlebten diese nicht. Viele Kinder wurden von ihren Eltern und in jugoslawischen Kinderheimen assimiliert. 12.000 Donauschwaben wurden zur Zwangsarbeit in die UdSSR verschleppt.

Zweite Heimat in "Neu-Gablonz" und alten Bunkern

Der Großteil der Flüchtlinge landete in Bayern. 1950 wurden offiziell 1,923 Millionen Vertriebene gezählt. 21,2 Prozent der bayerischen Bevölkerung waren "Neubürger". Nach Schleswig-Holstein (33 Prozent) und Niedersachsen (27,2 Prozent) hatte der Freistaat damit die drittgrößte Vertriebenenrate. 1954 übernahm er die "Patenschaft" für die Sudetendeutschen und erklärte sie zum "vierten Stamm" neben Altbayern, Franken und Schwaben.

Wirklich willkommen waren die Flüchtlingsmassen nicht. In den ausgebombten Städten war kein Platz; entsprechend wurden die meisten aufs Land, vor allem in strukturschwache Gebiete geschickt. In Niederbayern arbeiten die Flüchtlinge als "Hopfenbrocker" und "Kartoffelklauber". Bei Kaufbeuren siedelt die Staatsregierung gezielt Facharbeiter der früheren böhmischen Glas- und Schmuckindustie an: Gablonz an der Neiße soll als Neugablonz an der Wertach auferstehen.

Vielerorts werden die Flüchtlinge in Baracken und den baulichen Hinterlassenschaften der Nazis einquartiert, wo sie meist unter sich bleiben: in ehemaligen KZs und Zwangsarbeiterlagern, zerbombten Rüstungsbetrieben, aufgelassenen Bunkeranlagen. Bald bildeten sich aus den Flüchtlingslagern Geretsried, Neutraubling, Traunreut und Waldkraiburg ganze "Flüchtlingsstädte".

Beispiel Moschendorf

Welch ein Kontrast: Bevor sich in den 50er-Jahren der Eiserne Vorhang hinter Hof immer dichter zuzog, zählte die Stadt zu den meistdurchfluteten Flüchtlingsschleusen in Mitteleuropa. Über zwei Millionen Flüchtlinge machen hier im ersten Nachkriegsjahrzehnt Zwischenstation - viele im Lager Moschendorf. Bis zur Befreiung ist die Barackensiedlung an der Bahnlinie Hof-Regensburg eine Außenstelle des KZs Dachau. Dann wird es zum Durchgangslager für Heimatvertriebene, Kriegsheimkehrer und andere "displaced persons", später auch für Flüchtlinge aus der DDR. 1953 startet hier der Vorläufer des BR-Benefizprojekts "Sternstunden".

Beispiel Passau: Fünf Toiletten für 200 Menschen

In der Grenzstadt Passau strömten besonders viele Heimatlose zusammen. 28.000 Flüchtlinge wurden drei Monate nach Kriegsende registriert. In der ehemaligen Somme-Kaserne quartierten rund 2.000 deutschstämmige Flüchtlinge auf engstem Raum: 200 Menschen teilten sich fünf Klosetts, drei und mehr ein Bett. Die Tagesration eines Erwachsenen betrug drei Scheiben Schwarzbrot, 0,25 Liter dünnen Kaffee, 0,5 Liter Suppe mit einigen Rübenschnitzeln und 0,25 Liter Kräutertee.

Doch es gibt keine Alternative. Fast alle bleiben - wie diese alte Dame aus Schlesien, die bis heute durch Lektüre, Briefwechsel und vereinzelte Treffen die Verbindung in ihre verlorene Heimat hält.

Beispiel Waldkraiburg: Von der Pulverfabrik zur Stadt

1876 befindet sich hier nichts als Wald und der weit draußen gelegene Bahnhof des Städtchens Kraiburg. Die Geschichte der Stadt Waldkraiburg beginnt mit dem Zweiten Weltkrieg. Von 1939 bis 1945 arbeiteten Zwangsarbeiter in den Bunkern des Mühldorfer Hart für die Rüstungsindustrie. Danach siedelten sich im verlassenen Gelände Flüchtlinge und Heimatvertriebene an. 1950 wird aus den Notunterkünften eine Gemeinde; zehn Jahre später eine Stadt. Heute hat Waldkraiburg sechsmal mehr Einwohner als Kraiburg und ist mit 24.000 Einwohnern die größte Stadt im Landkreis Mühldorf am Inn - was unser Bilderslider veranschaulicht.


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