2

Küstenwanderung in Mittelnorwegen Unterwegs in „Annas Fotspor“ bei Kristiansund

Drei Meter unter dem Weg schlagen die Wellen an die Klippen. An einem Riss im Felsen ist ein kaum vierzig Zentimeter breiter Pfad angelegt, eine stabile Eisenkette vermittelt ein Gefühl von Sicherheit. Schotter wechselt sich ab mit Felsstufen, dazwischen Grassoden und – je nach Witterung und Jahreszeit – matschige Passagen. Dann sind gute Schuhe von Vorteil. „Annas Fotspor“, also Annas Fußspur, hat man diese Küstenwanderung hier bei Kristiansund in Mittelnorwegen getauft.

Von: Andreas Pehl

Stand: 17.06.2023

Unterwegs in „Annas Fotspor“ bei Kristiansund | Bild: BR; Andreas Pehl

Vor gut 100 Jahren lebte hier Anna, die Frau des Leuchtturmwärters am alten Leuchtturm am Ende der Bucht. Sie hatten sechs Kinder, dieser Weg war deren Schulweg. Jeden Tag mussten die Kinder auf diesem Weg zur Schule nach Kristiansund gehen, durch Morast und über Felsen, vorbei an der mächtigen Grotte mit den riesigen herabgefallenen Blöcken, von deren Decke heute ein paar Seile für Top-Rope-Kletterer befestigt sind. Dieser Schulweg war nicht ungefährlich, besonders wenn der Himmel nicht so blau war und der Wind nicht so entspannt vom Meer hereinwehte.

Der Leuchtturm

Als der Leuchtturmwärter starb, wurde es für Anna und ihre Kinder schwierig, denn als Frau durfte sie nicht die Anstellung als Leuchtturmwärter übernehmen. Doch die Stadtväter hatten ein Einsehen und stellten den ältesten Sohn als offiziellen Leuchtturmwärter ein. Anna konnte so weiter mit Leuchtzeichen einen Teil des Lebensunterhalts für die Familie verdienen. Außerdem hatte sie ein Ruderboot und fuhr aufs Meer zum Fischen. Die Familie züchtete auch Schafe auf der schmalen, windgepeitschten Landzunge, deren Wolle von Anna gesponnen und verstrickt wurde. Auf dem schmalen Weg an der Küste entlang brachte sie ihre Erzeugnisse auf den Markt der Stadt.

Dieser Weg war der Schulweg der Kinder und Verbindungsweg in die Stadt

Der Leuchtturm steht immer noch draußen auf der Landzunge – von Annas Haus ist jedoch nichts mehr zu sehen. Ruinen und Schutthaufen ragen zwischen den in den Wind geduckten Büschen und der Blaubeerheide heraus. Vom Leuchtturm aus blickt man zurück in die Stadt, auf die Steilküste mit dem Pfad, der sich in unterschiedlicher Höhe entlangschlängelt, hinaus aufs Meer – ein idyllischer Ort. Annas Geschichte hat ein gutes Ende gefunden – dieser Ort nicht. Denn 1940 kam der Krieg auch nach Norwegen. Die Deutschen haben dabei alle Gebäude hier auf der Landzunge verbrannt. Die Ruinen sind Reste von Annas Haus sowie Bunker und Geschützstellungen. Für die Kinder in der Gegend sind die Ruinen ein spannender Abenteuer-Spielplatz, schließlich kann man mit Taschenlampen in die Bunker gehen und sich einen Schauer über den Rücken jagen lassen. Und die Menschen hier erzählen sich bis heute, dass rund um den Leuchtturm die Geister deutscher und russischer Soldaten umgehen. Wohl dem Wanderer, dem an diesem Ort nur der kühle Wind des Nordmeers eine Gänsehaut auf den Rücken zaubert!


2