Kultur - Literatur


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Marieluise Fleißer Volkstheater mit langer Zigarettenpause

Ein Dichterleben in der kleinen Stadt: Früh schon begeistert Marieluise aus Ingolstadt mit ihrer präzisen Sprache auch Großstadtköpfe wie Bert Brecht. Die Zeit aber ist nicht ihre Zeit. Am 23. November wäre sie 110 geworden.

Von: Michael Kubitza

Stand: 01.04.2019 | Archiv

Marieluise Fleißer und ein Zitat aus ihren Werken | Bild: BR, picture-alliance/dpa, Montage: BR / Christian Sonnberger

Marieluise Fleißer ist 22, als Bert Brecht und Lion Feuchtwanger auf sie aufmerksam werden. Mit 25 provoziert sie einen Theaterskandal. 30 Jahre später weiß selbst in ihrer Heimat Ingolstadt kaum noch jemand, dass die Frau des Tabakhändlers und einstigen Meisterschwimmmers Josef "Bepp" Haindl eine vielversprechende Autorin war. Mit 70 wird die Fleißer wieder entdeckt, gefeiert, gar zur Übermutter eines Genres erklärt - des Volkstheaters.

Eigener Kopf mit Schalk im Nacken: Marieluise in Regensburg

So kann es gehen, wenn man im Jahr 1901 geboren wird, in ein Kleine-Leute-Milieu hinein, in dem Kunst vor allem die Kunst des Überlebens ist, und das als Frau. Lehrerin soll die Tochter eines liberalen Eisenhändlers werden, weshalb er sie auf ein Klosterinternat schickt, später zu den Englischen Fräulein nach Regensburg: In Ingolstadt gibt es für Mädchen noch kein Abitur. In München, wo "Lu" Theater studiert, begegnet sie erst Feuchtwanger, dann Brecht und macht ihre Leidenschaft für die Bühne und fürs Schreiben zum Beruf.

"Ingolstadt wird sich bedanken"

Es nicht ganz klar, welches Spiel Brecht und die "Fleißerin" miteinander spielen. Sie liebt ihn, er fördert sie und würde das junge Talent nur zu gern nach seinem Bilde formen.

Draws | Bild: Stadtmuseum Ingolstadt zur Bildergalerie Marieluise Fleißer Ein Dichterleben in der kleinen Stadt

Gleichgesinnte hatte sie wenige in Ingolstadt, und doch verbrachte sie fast ihr ganzes Leben in der Donaustadt. Die Ausstellung in ihrem Geburtshaus zeigt, wie's gewesen sein könnte. [mehr]

1926 hat "Fegefeuer in Ingolstadt" in Berlin Premiere und regt den Kritiker Alfred Kerr zu Spekulationen an, es könne von Brecht stammen - was bei Kerr kein Kompliment ist. 1928 fällt "Pioniere in Ingolstadt" in Dresden durch. 1929 bringt Brecht das Lustspiel in Berlin erneut auf die Bühne - nicht ohne es um Provokationen wie eine Entjungferung im Kistensarg zu bereichern. Die Inszenierung wird zum Skandal, Polizei rückt an. "Für diese Mitbürgerin wird sich Ingolstadt kräftig bedanken", höhnt der Rezensent der "Deutschen Zeitung", und in der Tat wird Fleißer in der Heimat zur persona non grata.

Dreißig Jahre Einsamkeit

Tief verunsichert löst die unfreiwillige Skandalautorin sich erst aus dem Banne Brechts und dann die Verlobung mit ihrem Jugendfreund Bepp Haindl. Drei Jahre lang zieht sie mit dem dichtenden Egozentriker Hellmut Draws-Tychsen erst schreibend, dann mehr streitend nach Schweden und Andorra. Am Ende landet sie deprimiert und mittellos doch wieder bei ihrem Jugendfreund, dem braven Bepp in Ingolstadt. Mit ihm kann sie schwimmen gehen und überleben; ihre literarischen Ambitionen sind für Bepp eine Spinnerei. Spuren ihrer Beziehung finden sich in ihrem einzigen Roman "Eine Zierde für den Verein".

Was nun folgt, darüber gibt Fleißer wenig Auskunft, und man will es so genau auch nicht wissen. Als Autorin steckt Fleißer in der Krise - was ihr immerhin Auseinandersetzungen mit den Nazis erspart. Als Tabak- und Spirituosenhändlersgattin kämpft sie um ihre Existenz. Als Ingolstädterin ist es ihr fast lieber, dass ihre literarische Arbeit kein Thema mehr ist. 1958 stirbt Haindl, Fleißer erliegt beinahe einem Herzinfarkt.

Werke (Auswahl)

1926

Fegefeuer in Ingolstadt

Minus mal Minus gibt Plus, doch die Gesetze der Mathematik gelten nicht in diesem Schauspiel reiner Hoffnungslosigkeit. Eine Jugend in Ingolstadt: Olga bekommt ein Kind, hat aber keinen Vater dazu. Roelle ist missgestaltet, zurückgeblieben und so katholisch, dass es selbst seiner katholischen Umwelt suspekt ist. Können die beiden Ausgestoßenen einander Halt geben? Sie mühen sich redlich, doch am Ende sind sie einsamer denn je. Fleißer bewältigt in ihrem Erstlingswerk von 1926 ihre katholische Klostererziehung mit Mitteln, die sie bei Feuchtwanger und Brecht findet; vom letzterem stammt auch der Titel des Stücks, das eigentlich "Die Fußwaschung" heißen sollte.

1928/1968

Pioniere in Ingolstadt

Wie von Fleißers Debüt gibt es auch von diesem Stück von 1928 mehrere Fassungen, die letzte von 1968. Es ist eine unromantische Komödie über Dienstmädchen und Soldaten, genauer: einen Trupp Küstriner Pioniere, die ins innersten Bayern kommandiert werden, um eine Holzbrücke zu bauen. Man mag sich nicht, lässt sich aber miteinander ein - schließlich, so der fiese Küstenkerl Korl: "Eine Liebe muss keine dabei sein". Viel Handlung ist auch nicht dabei, dafür in knappen Sätzen viel Wahres über die verrohte Zeit zwischen Erstem Weltkrieg und Naziterror. Wie schon im "Fegefeuer" liegt Fleißers Stärke in der Sprache ihrer Figuren, die, dem Daherreden der Leut' genau abgelauscht, Kommunikation verhindert statt herstellt.

1931/1972

Eine Zierde für den Verein

"Mehlreisende Frieda Geyer" heißt der zu wenig gelesene Roman in der Erstfassung. Untertitel: Ein Roman vom Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen. Die bühnenbekannte Autorin ist eine glänzende Erzählerin, ihre Frieda Geyer und deren Gustl stehen Falladas "kleinem Mann" und dem "Lämmchen" nicht nach. Wie dort das Angestelltenmilieu, erlebt man hier die prekäre Existenz kleiner Gewerbetreibender in der Provinz mit - und erfährt, kaum verschlüsselt, viel über das Leben von Marielouise und Bepp. So geht's los: "Dies ist der vierte Tag, seitdem Gustl Gillich, Tabakwarengillich, seinen Laden am Bittern Stein aufgemacht hat. Vergangen sind die drei bangen Tage, in denen keiner, der nicht wirklich mußte, über seine jungfräuliche Schwelle trat. (...) Er ist übertrieben bereit zum Empfang."

Später Muttertag

Fleißers Wiedererauferstehung ist ein Déjà-Vu der ersten Erfolge. Brecht, den sie nie vergessen hat, fädelt eine mäßig beachtete Inszenierung ihres Nachkriegsstücks "Der starke Stamm" ein. Dann sind da plötzlich wieder hoffnungsvolle junge Männer um sie, die ihr Werk dem Vergessen entreißen und wohl auch kräftig anzapfen: Martin Sperr, Franz Xaver Kroetz und Rainer Werner Fassbinder.

"Alle meine Söhne" nennt sie sie, und unerwartet wird die lang Verfemte als Mutter eines alt-neuen Genres, des Volkstheaters, mit Entschädigungs-Ehrungen überhäuft. Seit 1981 verleiht ihre Heimatstadt einen nach ihr benannten Literaturpreis, der unter anderem an Irmgard Keun, Herta Müller, Gert Heidenreich, 2007 an Kroetz und 2009 an Dea Loher geht.

"Ich hätte gern alles nachgeholt, aber das gelingt nicht, wenn die Mitte des Lebens für das Schaffen verloren gegangen ist. Ich schreib' ja sehr langsam, bring' mich unheimlich schwer dazu, aber das ist halt ein innerer Drang, gell, das muß man halt machen."

Fleißer im Gespräch mit André Müller 1971

1973: Kultusminister Hans Maier überreicht Fleißer den Bayerischen Verdienstorden

Viel hat Fleißer nicht vom späten Ruhm; sie stirbt 1974, immerhin im Zustand des Wiederentdeckt-Seins. Vor allem ihre Sprache, die, vermeintlich urwüchsig, doch durch und durch gestaltet ist, wird wieder geschätzt. Der Nachruhm einer Dichterin, die für kaum mehr als drei Stücke bekannt ist, erstaunt: Christian Stückl, Intendant des Münchner Volkstheaters, berichtet in einem SZ-Interview von 50 Anrufern, die sich die "Pioniere" auf dem Spielplan wünschten. Und für Elfriede Jelinek ist die Fleißer schlicht die wichtigste deutschsprachige Autorin des 20. Jahrhunderts.

Lebensdaten

* 23. November 1901 in Ingolstadt
+ 02. Februar 1974 in Ingolstadt


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