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Ein Mosaik von Einflussfaktoren Ursachen für Essstörungen

Es gibt zumeist nicht die eine zentrale Ursache, die eine Essstörung bei Kindern und Jugendlichen erklären würde. Man kann eher von einem Ursachen-Mosaik sprechen, das sich aus vielen kleinen Bestandteilen zusammensetzt.

Von: Klaus Schneider

Stand: 19.07.2021

Unsichtbare Esstörung Bulimie - eine junge Frau steht selbstrktisch vor einem Spiegel, in dessen Spiegelbild sie sich anders sieht, als wir sie sehen | Bild: BR Grafik

Vier wesentliche Einflussfaktoren können bei der Entstehung einer Essstörung eine Rolle spielen. Für sich genommen können sie relativ harmlos sein. Aber je mehr von diesen Mosaik-Steinen zusammenkommen, umso deutlicher steigt das Risiko, an einer Essstörung zu erkranken.

Biologische Faktoren

Das Risiko, an einer Essstörung zu erkranken, ist zu mindestens 50 Prozent erblich bedingt. Das bedeutet nicht, dass jeder, der diese Gene in sich trägt, zwangsläufig eine Essstörung entwickelt. Aber eine genetische Vorbelastung macht Betroffene anfälliger, unter Belastung oder wenn weitere Faktoren hinzukommen, mit einer Essstörung zu reagieren.

Darüber hinaus können bestimmte familiäre Konstitutionen eine Essstörung begünstigen. Wenn die Eltern beispielsweise zu Übergewicht neigen, kann ein Kind für sich entscheiden, schon früh mit Diäten zu beginnen. Aber auch, wenn sich viele Mitglieder einer Familie nah am Untergewicht bewegen, kann ein Kind ein problematisches Verhältnis zum eigenen Körper entwickeln.

Eine kalorienreduzierte Ernährung setzt zudem einen biologischen Mechanismus in Gang, der Unruhe und Nervosität zur Folge hat. Dieser Mechanismus führt auch dazu, dass sich alle Gedanken nur noch ums Essen drehen und die Aufmerksamkeit vorrangig auf Nahrung fokussiert ist.

"Bei vielen Betroffenen finden wir einen Bewegungszwang als Symptom. Das ist ein uraltes biologisches Programm: Wenn sich der Körper im Hungerzustand befindet, aktiviert er die letzten Energiereserven für die Nahrungssuche. Das verursacht eine gewisse Rast- und Ruhelosigkeit."

Dr. Karin Lachenmeir

Familiäre Faktoren

Es gibt nicht die eine typische "Essstörungsfamilie", sondern viele mögliche familiäre Konstellationen. Am einen Ende des Kontinuums steht die klassische "Bilderbuchfamilie" mit einem starken Familienzusammenhalt und einem großen Harmoniebedürfnis. Die Mitglieder vermeiden tendenziell Konflikte und unterdrücken Gefühle, weil sie ein gutes Bild nach außen abgeben möchten. Oft spielt in diesen Familien Leistung eine wichtige Rolle.

Am anderen Ende des Kontinuums befinden sich brüchige Familien, in denen die Eltern selbst sehr belastet sind, vielleicht sogar an psychischen Störungen leiden. Diese Familien tragen Streitigkeiten häufig intensiv und gefühlsbetont aus. Konflikte und emotionale Belastungen in Familien könnten auch durch die Erkrankung des Kindes ausgelöst werden – hier sind Ursache und Wirkung oft schwer zu trennen.

Zwischen diesen beiden Extremen sind im viele familiäre Konstellationen denkbar – bis hin zu Familien, in denen kaum Ursachen für eine Essstörung zu finden sind, dafür aber Ressourcen für den Genesungsprozess.

"Häufig beobachten wir, dass in den Familien von Betroffenen die Themen Ernährung, Figur, Gewicht und Fitness eine gewisse Rolle spielen. Sei es, weil die Eltern sehr sportlich sind. Sei es, weil die Mutter ständig Diäten macht oder zumindest davon spricht, dass sie das tun sollte."

Dr. Karin Lachenmeir

Individuelle Faktoren

Die persönlichen Einflussfaktoren können sehr unterschiedlich sein. Gemeinsam ist vielen Betroffenen aber ein ausgeprägtes Minderwertigkeitsgefühl mit starken Selbstzweifeln und einer Neigung zum Perfektionismus. Da sie oft hohe Erwartungen an sich selbst haben, führt ein Misserfolg schnell dazu, sich auf ganzer Linie in Frage zu stellen.

Hinzu kommt, dass viele junge Menschen mit einer Essstörung große Schwierigkeiten haben, ihre Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken. Sie neigen häufig dazu, die Erwartungen ihrer Umgebung zu erfüllen und sozial angepasst zu sein.

"Das sind oft sehr freundliche, reflektierte Patientinnen und Patienten, die aber zum Beispiel überhaupt nicht wissen: Wohin mit meiner Wut, meiner Angst, meiner Trauer? Und dann bietet sich die Essstörung eben als eine vermeintliche Lösung an."

Dr. Karin Lachenmeir

Darüber hinaus kommen bei Betroffenen immer wieder bestimmte Denkmuster vor. Viele Magersüchtige neigen beispielsweise schon vor dem Auftreten der Krankheit zu einer stark detailfokussierten Betrachtungsweise – was eine starre und wenig flexible Haltung zur Folge haben kann.

Soziokulturelle Faktoren

Auch die Leistungsgesellschaft im Allgemeinen und das aktuelle Schlankheitsideal, das de facto im untergewichtigen Bereich liegt, können – in Kombination mit anderen Einflussfaktoren – Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen begünstigen. Hinzu kommt die große Bedeutung von Gesundheit, Ernährung und Fitness in der Gesellschaft.

Das Schlankheitsideal wird unter anderem über Medien transportiert, die junge Menschen häufig nutzen. Dazu zählen Formate wie "Germany’s next Topmodel", aber auch Fitness-Influencer auf Youtube oder Instagram. Eine wichtige Rolle spielt der Vergleich mit anderen Gleichaltrigen, das können auch Freundinnen und Freunde aus dem direkten Umfeld sein.

Darüber hinaus kann auch die Art und Weise, wie Essstörungen in den Medien dargestellt werden, einen ungünstigen Effekt auf Betroffene haben. Oftmals werden sehr dünne und abgemagerte Patientinnen und Patienten gezeigt. Dabei sind zahlreiche Betroffene, zum Beispiel Menschen mit Bulimie, normalgewichtig und leiden trotzdem stark unter ihrer Erkrankung.

"Wie schwerwiegend und belastend eine Essstörung ist, hat nur am Rande etwas mit dem Gewicht zu tun. Eine Essstörung passiert vor allem im Kopf – es sind die ständigen Gedanken und Zwänge, die das Leben vergiften."

Dr. Karin Lachenmeir


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