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Land der Inuit Das Thema

Stand: 03.01.2013 | Archiv

Nunavut | Bild: picture-alliance/dpa

Einfache Verhältnisse

Am Anfang war scheinbar alles ganz einfach: "Inuk" heißt Mensch, "Inuit" sind die Menschen und sie zogen nomadisch durch "Nunaat" oder "Nunavut", das Land. Ihre Sprache wurde nur gesprochen und ihr Dasein war ein ständiger Kampf ums Überleben in einer großartig-grausamen Natur. Doch dann änderte sich im Verlaufe weniger Jahre alles - ein Prozess der Verkomplizierung dieser ursprünglich so einfachen Verhältnisse setzte ein, ein Prozess des Verlustes von Traditionen und der Verbundenheit mit der Natur. Doch lässt sich die Geschichte der Inuit so eindimensional erzählen? Welche Versuche gibt es heute, den Bewohnern des Hohen Nordens ein selbstbestimmtes und -organisiertes Leben in einem moderneren Umfeld zu ermöglichen? Kann die Einbindung der Inuit vorbildhaft sein für die Integration von Ureinwohnern in anderen Teilen der Welt? Die Argumentation vom "bösen Weißen" jedenfalls greift zu kurz. Denn dass Märchen der guten alten Zeit kein Happy End haben müssen, zeigt Robert J. Flahertys "Nanook of the north" schon 1922. Der erste Dokumentarfilm über ein Naturvolk erzählt vom Leben und Jagen des Inuk Nanuk, wie er eingedeutscht hieß. Zwei Jahre nach den Filmaufnahmen ist Nanuk gestorben: verhungert, auf der Jagd im Landesinneren.

Welt in weiß

Die Dimensionen von Nunavut sind gewaltig: Das aus der Teilung der Northwest Territories hervorgegangene Gebiet umfasst zwei Millionen Quadratkilometer Land, ein Fünftel von Kanadas Fläche. Die meisten Inseln des Kanadisch-Arktischen Archipels (darunter die riesige Baffininsel) und die Inseln der Hudson Bay, der James Bay und der Ungava Bay zählen zum Territorium Nunavut. Auf den kargen Flächen der erdgeschichtlich jungen Landschaft entwickelte sich die Flora erst nach dem Ende der letzten Eiszeit: ein Grund für die Artenarmut der Region. Der Permafrost, die kurzen Sommer und der geringe Niederschlag der "Polarwüste" bieten nur den anspruchslosesten Pflanzen Wachstumschancen. Wichtiger als Bodenerträge waren für die Inuit seit jeher die Tiere der Tundra und des Polarmeeres. Karibus und Moschusochsen lieferten Fleisch und Felle für Kleidung und Zelte, Wale und Robbenarten waren Nahrungsquellen und wurden von den Knochen bis zum Fett verwertet. Gemessen an der geringen Einwohnerzahl Nunavuts ist das Bevölkerungswachstum immens: In den vergangenen sechs Jahren stieg die Zahl um 20 Prozent. Eine ähnliche Quote kann auch die Hauptstadt Iqaluit, übersetzt "Ort mit viel Fisch", vorweisen: das ehemalige Frobisher Bay ist die einzige Stadt von Nunavut, mit allen Insignien der Kapitale – einem Regierungssitz, mit Flughafen, Radio- und Fernsehstation, dem "Nunavut Arctic College", mit Museum, Galerien und Besucherzentrum.

Existenzen ohne Grundlage

Noch vor zwei Generationen wäre eine solche Anhäufung von Wichtigkeit und Wohngebäuden undenkbar gewesen. Die Inuit lebten nomadisch zwischen Sommercamps und Winterunterkünften, ihr Lebensmittelpunkt bildete die Jagd. Die Einführung der Schulpflicht, die Sesshaftigkeit und das Ende der Robbenjagd bedeuteten die Aufgabe der traditionellen Lebensweise, die neuen Bequemlichkeiten vermochten nicht über den entstandenen Sinnverlust hinwegzutäuschen. Zwar sind die Inuit heute materiell reicher denn je – dennoch ist ihr Einkommen gemessen am kanadischen Durchschnitt niedrig, Lebensmittel und Konsumgüter sind bis zu drei Mal teurer. Kostspielig sind auch viele der technischen Geräte, die das Leben in Eis und Schnee einfacher machen: Motorboote, Schneemobile und Quads. Den höheren Geldbedarf können viele Menschen nicht erwirtschaften: Arbeitsplätze fehlen oder es mangelt an der Qualifikation für besser dotierte Jobs, ein Viertel der Bevölkerung ist auf Sozialhilfe angewiesen. Die mangelnde Beschäftigung zieht viele andere Probleme mit sich: Neben dem Alkohol- und Drogenmissbrauch, einer hohen Quote häuslicher Gewalt und von Schwangerschaften sehr junger Frauen gibt vor allem die Selbstmordrate zu denken. Vier Mal mehr Menschen als im Rest der Nation beenden ihr Leben selbst, vor allem junge Männer, der Suizid ist nach den Krebserkrankungen die häufigste Todesursache. Wobei die Selbsttötung traurige Tradition ist: schon aus den Schilderungen des grönländischen Polarforschers Knud Rasmussen geht hervor, dass Suizide verbreitet waren. Das lag einerseits an der Vorstellung, dass dieses Ende eine reinigende Wirkung auf die Seele habe. Andererseits entlastete der Tod von alten, kranken oder für die Gemeinschaft nicht mehr "nützlichen" Menschen die Großfamilien, die auf engstem Raum und in ständiger Sorge um Nahrung lebten.

Die wiedergewonnene Identität

Nachdem die Probleme der Inuit über Jahrzehnte vom weit entfernten Ottawa zumeist übersehen wurden, ging mit der Gründung von Nunavut am 1. April 1999 die Verantwortung für die Menschen und die Entwicklung des Gemeinwesens auf die gewählte "Konsens"-Regierung über. Dabei folgte die Abtrennung Nunavuts von den Northern Territories politischem Kalkül: Hier wurde ein Gebiet den "First People" zur politischen und wirtschaftlichen Verwaltung übergeben, in dem die Ureinwohner sowieso seit Jahrtausenden gelebt hatten, ohne allerdings Anspruch darauf zu erheben. Ein politischer Schachzug, die Unabhängigkeitsbestrebungen ins Leere laufen zu lassen, aber auch die Eigenverantwortlichkeit zu stärken. Von der neuen Hauptstadt Iqaluit aus versuchen die Premierministerin Eva Aariak und sieben Minister einen Ausgleich der Interessen herzustellen. Ihre Wahl zeigt, welche Bedeutung der Anerkennung des Inuktitut zukommt: Bevor Eva Aariak im November 2008 ins Amt gewählt wurde, hat die Regierungschefin sechs Jahre lang als Sprachbeauftrage an der "Official Language Bill", der Gleichberechtigung von Inuktitut neben Englisch und Französisch, und dem Schutz der Ureinwohner-Sprache gearbeitet. Sie hat die Benutzeroberfläche von Microsoft in die Silbenschrift der Inuit übersetzt und Schulbücher geschrieben. Doch noch immer klaffen Lücken in der Anpassung der Lerninhalte an die Lebenswirklichkeit der "First people" – von den abgehobenen Botschaften aus dem Fernsehen ganz zu schweigen.

Eine Frage des Klimas

Trotz der politischen Zugeständnisse sind viele Ureinwohner nicht wirklich zufrieden mit ihrer Situation: zu tief sitzt der Schmerz über die verloren gegangenen Traditionen, zu schlecht sind die persönlichen Perspektiven, zu groß ist der Verdacht, dass viele kanadische Versprechen nicht eingelöst werden. So steht die versprochene Hilfe beim Bau eines Hafens bis heute aus – trotz seiner riesigen Küstenlänge besitzt Nunavut keinen einzigen Hafen. Auch stellt sich die Frage, wie sich der kanadische Staat um die Erhaltung des fragilen arktischen Lebensraums kümmern wird, wenn die wirtschaftlichen Verheißungen zu groß werden. Für die Arktis als das "Barometer der Welt" ist die Veränderung des Klimas ein existenzielles Problem. Seit mehr als 20 Jahren beobachten die Inuit das Schmelzen der Gletscher und das Abtauen des Permafrostes, eine Verkürzung des Winters und Ausdehnung des Sommers, das Erscheinen bisher unbekannter Vogel- und Insektenarten. Ein forcierter Rohstoffabbau der Bodenschätze Blei, Silber, Zink, Erdöl und Erdgas und der zunehmende Schiffsverkehr durch die seit 2007 eisfreie Nordwestpassage werden die Umwelt zusätzlich belasten. Innerhalb nur eines Jahres ist das nordpolare Eis um eine Million Quadratkilometer geschrumpft – die eisfreie Route könnte eine Alternative zum teuren Panamakanal werden, wesentlich kürzer ist sie ohnehin. Kanada beansprucht die Wasserfläche als nationalen Besitz, die USA halten sie für internationales Gewässer. Ein heikler Streitfall, auch für das noch junge Nunavut: soll es Ansprüche anmelden, obwohl nach seinem Verständnis weder das Land und noch viel weniger das Meer den Menschen gehören? Soll es strengste Reglementierungen fordern, dadurch aber auf dringend benötigte Arbeitsplätze verzichten? Wie immer die Entscheidungen fallen im Hohen Norden Amerikas – sie sind eng verknüpft mit der Frage, wie viel Zukunft die Inuit von Nunvut haben.


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