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"Wir sind ein Volk!" Glossar

Stand: 15.06.2015 | Archiv

BegriffeErklärung
Zwei-plus-Vier-VertragDie Entwicklung der 2+4-Formel, also Verhandlungen zwischen den beiden deutschen Staaten und den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs über die deutsche Einheit im Jahr 1990, ist ein großer Erfolg der bundesdeutschen Diplomatie. Nachdem die Sowjetunion Anfang 1990 Zustimmung zur Wiedervereinigung signalisiert, kommt es für die Bundesregierung darauf an, Gespräche schnell in Gang zu bringen. Sie will durch ein enges Mitwirken von BRD und DDR verhindern, dass die USA, die Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich Verhandlungshoheit haben und allein über das Schicksal der Deutschen bestimmen. Außerdem sollen Verhandlungen über einen Friedensvertrag vermieden werden, denn in diesem Fall müssten etwa 40 Staaten, die sich mit Deutschland 1945 im Krieg befanden, daran beteiligt werden - enorme Verzögerungen im Einheitsprozess wären die Folge.
Als die Bundesregierung einen klaren außenpolitischen Kurs Deutschlands glaubhaft macht - Bekenntnis zur nordatlantischen Allianz, Vorantreiben der europäischen Integration, Garantie der polnischen Westgrenze (Oder-Neiße-Linie), Wirtschaftshilfen für die UdSSR - gibt es rasche Verhandlungserfolge. Am 12. September 1990 wird der Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland in Moskau unterzeichnet".
Die Bestimmungen des 2+4-Vertrags:
Das vereinte Deutschland umfasst die Gebiete der BRD, DDR sowie West- und Ostberlin.Deutschland erhebt keine Gebietsansprüche gegen andere Staaten. Deutschland bekennt sich zu Gewaltverzicht, Selbstbestimmungsrecht und Völkerverständigung. Deutschland hat das Recht auf freie Bündniswahl, kann also NATO-Mitglied sein.Die Obergrenze der Bundeswehr beträgt 370.000 Soldaten.Deutschland verpflichtet sich, atomare, biologische und chemische Waffen weder herzustellen, zu besitzen noch Verfügungsgewalt darüber anzustreben.Die sowjetischen Truppen ziehen bis 1994 aus Deutschland ab. Streitkräfte der NATO und Kernwaffen dürfen nicht auf dem Gebiet der Ex-DDR stationiert werden.Die zentrale Bestimmung des 2+4-Vertrags lautet: "Die Französische Republik, das Vereinigte Königreich, die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten beenden ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes". Deutschland hat die volle Souveränität erlangt, Siegerrechte gibt es nicht mehr.
Deutschlandpolitik der Regierung Kohl-GenscherDie CDU/CSU lehnt die Ostverträge des Bundeskanzlers Willy Brandt (SPD; 1969-1974), dessen sozial-liberale Regierung unter anderem den Grundlagenvertrag mit der DDR aushandelt, vehement ab ("Ausverkauf deutscher Interessen", "Verzichtspolitik"). Dies hindert sie aber nicht daran, die Arbeit des Vaters der Entspannungspolitik nach dem Regierungswechsel 1982 zusammen mit der FDP fortzusetzen. Auf dem Gebiet der Deutschlandpolitik bleibt die in der Regierungserklärung prophezeite "geistig-moralische Wende" aus. Bundeskanzler Helmut Kohl und sein Außenminister Hans-Dietrich Genscher messen den Beziehungen zur DDR, zu den osteuropäischen Staaten und zur Sowjetunion eine zentrale Bedeutung bei. Damit bestätigen sie, dass Westbindung und Ostkontakte die außenpolitische Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland ausmachen.
In der Ära Kohl wird das Geflecht der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten immer enger. Nicht nur die Machteliten, sondern auch die Menschen beider deutscher Staaten nähern sich in den 1980er Jahren spürbar an. Politikertreffen sind an der Tagesordnung, Jugendaustausch findet statt. Der innerdeutsche Handel floriert, die DDR erhält Milliardenkredite und die SED-Führung sorgt im Gegenzug für eine Liberalisierung des Reiseverkehrs.
Flüchtlinge/Sperrbrecher/ÜbersiedlerDie innerdeutsche Migration 1949-1990 ist mit Wanderungsbewegungen in anderen Teilen der Welt, die etwa durch Hunger, (Bürger-)Kriege, Wirtschaftskrisen oder Naturkatastrophen verursacht werden, nicht zu vergleichen. Die nach sowjetischem Vorbild gestaltete Deutsche Demokratische Republik muss sich andauernd neben einem erfolgreichen Gegenmodell, der Bundesrepublik Deutschland, behaupten. Während des gesamten Zeitraums des Bestehens der DDR zieht es Teile ihrer Bevölkerung in den westlichen Teilstaat. Zwischen 1949 und 1961 wandern 2,7 Millionen Menschen in den Westen ab. In der Zeit vom Mauerbau 1961 bis Ende 1989 siedeln etwa 500.000 DDR-ler mit Genehmigung in die BRD über, 460.000 flüchten, mehr als 15.000 werden von der Bundesregierung "freigekauft".
In der Bundesrepublik werden die Menschen aufgenommen und erhalten Pässe. Der Grund: Die BRD beansprucht im Grundgesetz die Rechtnachfolge des Deutschen Reichs und die Vertretung für alle Deutschen. Eine DDR-Staatsbürgerschaft wird deshalb nicht anerkannt, Bonn beharrt auf einer gesamtdeutschen Nationalität. DDR-Zuwanderer werden folglich als Deutsche betrachtet, die lediglich ihren Wohnsitz verändern.
Mit Grenzsperren und Mauerbau stemmt sich das SED-Regime gegen die Flüchtlings- und Übersiedlerbewegung, die den "Arbeiter- und Bauernstaat" zu destabilisieren droht und am Ende seinen Untergang mit besiegelt. Als Flüchtlinge werden Personen bezeichnet, deren Handlungen vor den Gerichten der DDR den Straftatbestand des "ungesetzlichen Grenzübertritts" beziehungsweise der "Republikflucht" erfüllt hätten. Sperrbrecher sind Flüchtlinge, die die DDR unter Lebensgefahr verlassen haben und dabei die Sperranlagen an der innerdeutschen Grenze überwinden konnten. Übersiedler sind DDR-Bürger, die nach der Genehmigung ihres Ausreiseantrags in die Bundesrepublik einwanderten oder nach dem Fall der Mauer im Herbst 1989 nach Westdeutschland oder Westberlin reisten und dort blieben.
Grenzöffnung in Ungarn1988 treten in der ungarischen KP Reformer in den Vordergrund, die einen Umbau des Staates anstreben und die Einführung eines Mehrparteiensystems planen. Ministerpräsident Niclós Németh intensiviert die Beziehungen zum Westen, im November 1988 nimmt sein Außenminister Gyula Horn als erster Ostblockpolitiker an einer NATO-Tagung teil. Im Mai 1989 beginnt Ungarn mit dem Abbau der Befestigungen an der Grenze zu Österreich. Die Demontage wird mit einem großen politischen und publizistischen Aufwand betrieben und bleibt den Menschen in Ostdeutschland nicht verborgen.
So kommt es im Sommer zu einer massenhaften Abwanderungsbewegung. Viele DDR-ler, die nach Ungarn in Urlaub gefahren sind, versuchen über die nach wie vor bewachte "grüne Grenze" nach Österreich zu fliehen, andere besetzen die bundesdeutsche Botschaft in Budapest. Als ein ungarischer Grenzsoldat am 21. August bei einem Handgemenge einen Flüchtling erschießt, droht die Lage zu eskalieren. Zunächst gestattet die ungarische Regierung die Ausreise der Botschaftsbesetzer nach Österreich, dann öffnet sie ohne Absprache mit Ostberlin am 10./11. September die Grenze. Zu Tausenden strömen Ostdeutsche über Österreich in die Bundesrepublik.
GrundlagenvertragAm 21. Dezember 1972 wird der "Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen" zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik unterzeichnet. Beide Seiten bekennen sich zu gutnachbarschaftlichen Beziehungen, sie verzichten im Sinne der UN-Charta auf die Anwendung und Androhung von Gewalt und gestehen einander die Unverletzlichkeit der zwischendeutschen Grenze zu. Außerdem verpflichten sie sich, die Unabhängigkeit und Selbständigkeit des jeweils anderen zu respektieren. Der Vertrag bringt der DDR die lang ersehnte internationale Aufwertung, doch eine völkerrechtliche Anerkennung durch die BRD bleibt ihr verwehrt.
In der Frage der Staatsangehörigkeit gibt es kein Entgegenkommen: Eine eigene DDR-Nationalität akzeptiert die Bundesrepublik nicht. Das Sonderverhältnis zwischen DDR und BRD zeigt sich auch darin, dass nicht Botschaften, sondern Ständige Vertretungen in Bonn und Ostberlin eingerichtet werden. Mit der Ratifizierung des Grundlagenvertrages durch Bundestag und Volkskammer am 21. Juni 1973 ist die Voraussetzung für den Beitritt beider deutscher Staaten zu den Vereinten Nationen erfüllt.
Reformen Michail Gorbatschows1985 wählt das Zentralkomitee der KPdSU den 54-jährigen Michail Gorbatschow zum neuen Generalsekretär der Partei. Gorbatschow stammt aus bäuerlichen Verhältnissen, er studierte Jura und Agrarwissenschaften. Von Beginn an betont Gorbatschow die Notwendigkeit einer Reform des Wirtschaftssystems der UdSSR. Durch technischen Fortschritt, Kampf gegen Korruption und durch Schließung unrentabler Betriebe will er die russische Ökonomie leistungsfähiger machen. Bürokratieabbau soll das Verantwortungsbewusstsein der Menschen wecken.
Zwei Schlagworte prägen Gorbatschows Reformprogramm: Perestrojka (Umgestaltung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens) und Glasnost (gesellschaftliche Offenheit). Die Presse darf Kritisches berichten, Regimegegner werden freigelassen. Den Staaten des Warschauer Pakts gewährt die Führungsmacht UdSSR mehr außen- und innenpolitischen Spielraum. 1988 teilt Gorbatschow auf einem Gipfeltreffen des Warschauer Pakts den Bündnispartnern schließlich mit, dass jeder selbst für die Entwicklung seines Landes verantwortlich ist und das es seitens der Sowjetunion keine Einmischung mehr gibt.
An die Einführung eines kapitalistischen Systems westlicher Prägung denkt Gorbatschow nicht. Er will den Sozialismus durch das Einstreuen markwirtschaftlicher und demokratischer Elemente reformieren und auf diesem Wege sowohl die KP-Herrschaft als auch die Sowjetunion retten. Eine neue Entspannungspolitik, verbunden mit Abrüstungsmaßnahmen, soll Kürzungen im Militäretat ermöglichen, damit die Konsumgüterversorgung verbessert werden kann. Trotz aller Bemühungen verschärft sich jedoch die wirtschaftliche Lage der UdSSR.
SiegerrechteAls die deutschen Teilstaaten BRD und DDR 1949 gegründet werden, sind sie nicht souverän. Die westlichen Siegermächte USA, Großbritannien und Frankreich sichern sich im Besatzungsstatut die Kontrolle der auswärtigen Beziehungen Westdeutschlands zu und geben sich auch das Recht, dessen verfassungsmäßige Ordnung im Inneren zu überwachen. Erst nach Abschluss der Pariser Verträge (Oktober 1954), dem NATO-Beitritt der Bundesrepublik und dem Inkrafttreten des Deutschlandvertrages (Mai 1955) erhält diese eine - nach wie vor eingeschränkte - Souveränität. Ähnlich ergeht es der DDR, die mit der Sowjetunion im September 1955 einen Freundschaftsvertrag abschließt.
Weil der Zweite Weltkrieg mangels Friedensvertrag offiziell nicht beendet ist, beharren die vier Siegermächte bis 1990 auf ihren "Rechten und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung". In Berlin "regieren" auch nach Unterzeichnung des Viermächteabkommens (1971) prestigebewusste alliierte Stadtkommandanten und Gesandte, hier gilt weiterhin Besatzungsrecht. Besucht beispielsweise ein Bundeskanzler mit einem US-Präsidenten Westberlin, tut er dies als dessen Gast. Ohne Zustimmung der Alliierten dürfen die Deutschen weder ihre Grenzen verändern noch einen einheitlichen Staat gründen. Erst durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag (September 1990) endet die Vormundschaft, Deutschland erhält die volle Souveränität.
Wirtschafts-, Währungs- und SozialunionMit der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion wird die Verschmelzung der ostdeutschen mit der westdeutschen Volkswirtschaft eingeleitet. Die Regierungen beider Staaten handeln dazu einen Staatsvertrag aus, der am 1. Juli 1990 in Kraft tritt. Ziele sind die Einführung der Marktwirtschaft "im Osten" und die Schaffung eines einheitlichen Währungsgebietes mit dem Zahlungsmittel D-Mark. Außerdem soll den Ostdeutschen nach einer Zeit der Massenabwanderung - allein im Zeitraum Januar bis Mai 1990 verlassen 185.000 Menschen die DDR - eine Bleibeperspektive geboten werden.
Einkommen und Mieten werden im Verhältnis 1:1, Guthaben bis 4.000 Mark im Verhältnis 1:1 umgestellt. Ältere DDR-ler ab dem 60. Lebensjahr dürfen bis zu 6.000 Mark im Verhältnis 1:1 umtauschen, Kinder unter 14 Jahren 2.000 Mark. Für höhere Beträge liegt der Umstellungskurs bei 2:1. Mit der D-Mark übernimmt die DDR auch die Wirtschafts- und Sozialgesetze der BRD. Die Aufnahme von Übersiedlern wird im Westen gestoppt, DDR-Zuwanderer erhalten kein Überbrückungsgeld mehr. Außerdem entfallen Grenzkontrollen. Der zur Währungsumstellung erwartete Kaufrausch bleibt zunächst aus, setzt aber in der zweiten Juliwoche mit voller Wucht ein: DDR-Bürger stürmen westdeutsche Kaufhäuser.
Die DDR-Ökonomie verkraftet die Blitzverschmelzung der Wirtschaftssysteme nicht. Zahlreiche Betriebe sind nicht wettbewerbsfähig und müssen schließen. Im Sommer 1990 werden in Ostdeutschland 9,3 Millionen Beschäftigte gezählt, im Jahr darauf sind es nur noch 6,7 Millionen.
"Wohlfahrtssozialismus"1971 wird der gelernte Dachdecker Erich Honecker, seit 1958 Mitglied des Politbüros der SED, Erster Sekretär seiner Partei. Bald nach seinem Machtantritt wendet sich Honecker der Sozialpolitik zu. Sein Ziel ist es, den Lebensstandard der DDR-Bürger zu steigern, Massenloyalität zu gewinnen und langfristig das Produktionswachstum zu stimulieren. Die Arbeitszeit wird verkürzt, Summen in Milliardenhöhe für die Subventionierung von Lebensmitteln, Industriewaren und Tarifen der öffentlichen Dienstleistungen werden aufgewendet. Preiserhöhungen beim Grundbedarf werden grundsätzlich ausgeschlossen und ein umfassendes Wohnungsbauprogramm wird eingeleitet. Da fast 90 Prozent der Frauen berufstätig sind, wird ein spezielles Frauenförderprogramm aufgelegt (bezahltes Babyjahr, Bau von Kindergärten/-krippen, Weiterbildung im Beruf etc.).
Für große Teile der ostdeutschen Bevölkerung bedeuten diese Maßnahmen einen deutlich spürbaren Anstieg des Lebensniveaus. Für die DDR sind die Folgen dieser Wirtschaftspolitik jedoch verheerend. Die materiellen Ressourcen des Landes werden durch den "Wohlfahrtssozialismus" erheblich überfordert, die Staatsverschuldung steigt rapide.

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