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Das Thema Von Flowerpower zur "wehrhaften Demokratie"

Stand: 03.09.2010 | Archiv

Nach dem Tod von Hanns Martin Schleyer hält in Nürnberg eine Polizistin ein Fahndungsplakat mit RAF-Mitgliedern in der Hand | Bild: picture-alliance/dpa

Die Zeit zwischen 1970 und 1977 zählt zu den spannendsten Phasen der deutschen Nachkriegsgeschichte: Die Ölkrise und Tarifauseinandersetzungen trüben die Aufbruchsstimmung der 60er Jahre, die Arbeitslosenzahlen steigen. Und aus Bürgerkindern werden Bombenleger: Die Rote Armee Fraktion, hervorgegangen aus der Baader-Meinhof-Gruppe, versetzt Mitte der 70er Jahre das Establishment in Angst und Schrecken. Die Antwort ist ein massiver Ausbau der Polizei – ohne dass die Attentate auf Repräsentanten des Staats und der Wirtschaft verhindert werden können. Höhepunkt des "Deutschen Herbstes" 1977 ist die Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und die Befreiung der Insassen der gekidnappten Lufthansa-Maschine "Landshut" in Mogadischu. Eine bewegte Zeit in der deutschen Geschichte - und sie ist noch längst nicht aufgearbeitet.

Gesellschaft im Zwiespalt

Willy Brandts Versöhnungsgeste: der Warschauer Kniefall im Jahr 1970

Ideell markieren die 1970er Jahre den Übergang der 68er-Errungenschaften ins Alltagsleben einer Gesellschaft, die die Frage nach ihrer Verantwortung und Mitschuld im Zweiten Weltkrieg noch gar nicht öffentlich reflektiert hat. Es vollzieht sich ein Wandel der Werte, über deren Nutzen heute Konsens herrscht, Stichworte sind Sexualmoral und Gleichstellung der Geschlechter. Außenpolitisch sind die 70er Jahre bestimmt von dem Bemühen, die Ost-West-Beziehungen pragmatisch zu regeln. Das ist schwierig, auch wegen der großen wirtschaftlichen Gegensätze: Im Osten herrscht die sozialistische Planwirtschaft der DDR, im Westen die soziale Marktwirtschaft. Die Regierung Brandt den Versuch, Erich Honecker und seinen Genossen auf Augenhöhe zu begegnen. Die große Geste von Willy Brandts Kniefall in Warschau 1970 leitet die Entspannungspolitik symbolisch ein.

Wandel mithilfe von Gewalt

Auch nach innen ist die Dekade geprägt von Gegensätzen: Junge Menschen gehen in Konfrontation zum starken Staat, manche glauben, zum Widerstand extremistische Gewalt einsetzen zu müssen. Moralische Unterstützung bekommen die Widerständler von Protestbewegungen in den USA, die ein Ende des Vietnamkrieges fordern. Die Regierung der Bundesrepublik bezieht zu diesem Krieg keine klare Stellung, weil sie den mächtigen Bündnispartner USA nicht verschrecken möchte – für viele ein Beweis von Schwäche und Hörigkeit.

Biedermänner werden Brandstifter

In der Studentenbewegung, der APO und anderen Gruppierungen entsteht ein Linksextremismus, auf den der Staat mit Polizeigewalt reagiert. Das wirkt auf die Linksextremen wie eine Bestätigung ihrer Vorurteile, nämlich dass der Staat "imperialistisch", "kapitalistisch" und "faschistisch" handelt. Es sind vor allem die Kinder aus bürgerlichen und großbürgerlichen Verhältnissen, die sich gegen den Staat wenden. Sie studieren, oder scheitern an ihrem Studium, und suchen meist aus einer gesicherten Existenz hinaus einen anderen Lebensinhalt.

Ein erster Anschlag auf die Grundfesten der Republik

Andreas Baader, Mitglied der Roten Armee Fraktion

Mit einem Brandanschlag auf zwei Frankfurter Kaufhäuser im April 1968 setzen Andreas Baader und Gudrun Ensslin ein erstes Zeichen der Gewalt. Zwei Jahre später gründet sich aus der Befreiung Baaders aus der Haft die Rote Armee Fraktion. Bis zu ihrer Auflösung 1998 kosten RAF-Aktionen mehr als 30 Menschen das Leben. Dennoch gab es in der Zeit, als die RAF die Schlagzeilen in der Bundesrepublik bestimmte, immer Sympathisanten mit den Terroristen – ein Effekt, den die RAF vor allem durch ihre Klagen über die Haftbedingungen erreichte. Auch der Tod von Holger Meins erweist sich als öffentlichkeitswirksam: Als Meins im November 1974 nach einem mehrwöchigen Hungerstreik trotz künstlicher Ernährung stirbt, löst das eine Welle der Solidarisierung aus. Die RAF gewinnt neue Mitglieder – unter anderen Stefan Wisniewski, genannt "die Furie", der zum Täterkreis der Buback-Mörder gehört. Diese so genannte zweite Generation der RAF war es auch, die den Anschlag auf die deutsche Botschaft in Stockholm 1975 verübte und für die Eskalation der Gewalt im Jahr 1977 verantwortlich zeichnete.

Radikalisierung und halbherzige Terrorbekämpfung

Ulrike Meinhof

Im Februar 1975 entführt die "Bewegung 2. Juni" (benannt nach dem Tag, an dem 1967 der Student Benno Ohnesorg während einer Anti-Schah-Demonstration von einem Polizisten erschossen wurde) den CDU-Politiker Peter Lorenz. Lorenz kam frei – im Austausch gegen Terroristen. Der Staat schien erpressbar. Eine wichtige Erkenntnis für die zweite RAF-Generation. Es ging ihr immer weniger um den politischen Protest und um eine künftige proletarische Einheit, sondern vielmehr um die Freilassung inhaftierter RAF-Mitglieder. Eine Guerilla-Taktik, die den Staat (über)forderte. Auch weil er keine klare Stellung bezog. Der "Radikalenerlass" vom Januar 1972 etwa war mehr Aktionismus als Terrorbekämpfung: Es sollte sicher gestellt werden, dass zukünftige Beamte sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik bekennen. Bis 1976 wird fast eine halbe Million Bewerber auf Herz und Nieren geprüft, nur 428 werden abgewiesen – ein bürokratischer Flop.

Pannen beim Prozess und rätselhafte Selbstmorde

Skizze: Szene aus den Stammheimer Prozessen

Auch als 1975/76 der ersten Riege der RAF der Prozess gemacht wird, kommt es zu größeren Pannen: So muss der oberste Richter der Stammheimer Prozesse, Theodor Prinzing, wegen Befangenheit abgelöst werden. Die Angeklagten lehnen die beigestellten Pflichtverteidiger als "Zwangsverteidiger" ab. In einem Tondokument aus dem unter großen Sicherheitsvorkehrungen stattfindenden Prozess spricht Gudrun Ensslin von der "Pflicht zum Widerstand" – eine beinahe militärische Sprachfügung, die schon damals überholt klang. Ulrike Meinhof beurteilte das Gerichtsverfahren als politischen Prozess. Meinhof ist durch die zurückliegende monatelange Einzelhaft so angeschlagen, dass sie kaum einen verständlichen Satz herausbringt. Auch im Verlaufe der Fahndung nach dem entführten Hanns Martin Schleyer kommt es zu Ermittlungsfehlern: Es gibt einen konkreten Hinweis auf das Versteck, dem zunächst keine Beachtung geschenkt wird. Erstaunlich wirkt heute auch, wie es in einem Hochsicherheitsgefängnis wie Stuttgart-Stammheim zu den zeitgleichen Suiziden von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe am 18. Oktober 1977 kommen kann. Waren die Selbstmordabsichten bekannt, wurden sie womöglich sanktioniert?

Ausblick auf die 80er

Dennoch kann der Staat gestärkt aus dieser Zeit der schlimmsten Angriffe gegen seine Grundfesten hervorgehen. Was Bundespräsident Walter Scheel beim Staatsakt für Hanns Martin Schleyer fast beschwörend formulierte: Sein Tod müsse als "Einschnitt in der Geschichte" begriffen werden, von dem "eine verwandelnde Kraft ausgehen" müsse, schien sich zu bewahrheiten. Zwar gab es auch nach den 70er Jahren noch RAF-Anschläge, doch überrollte kein zweites Mal eine solche Welle des Terrors das Land wie im "Deutschen Herbst" 1977. Den versöhnlichen Schlusspunkt des Jahrzehnts setzt die Gründung der Grünen 1980. Die aus alternativen Listen und der Anti-Atomkraft-Bewegung hervorgegangene Partei setzt bewusst auf Gewaltfreiheit – und auf eine Opposition innerhalb des Parlamentes.


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