Bayern 2 - Das Kalenderblatt


5

26. Juni 1977 Tim Severin erreicht mit dem Nachbau eines mittelalterlichen Lederboots Neufundland

Irische Mönche, die im 6. Jahrhundert in einem Lederboot die Küste Neufundlands erreicht haben? Unmöglich. Nur eine Legende. Aber was, wenn doch?, fragte sich Tim Severin und machte die Probe aufs Exempel. Autor: Simon Demmelhuber

Stand: 26.06.2019 | Archiv

26 Juni

Mittwoch, 26. Juni 2019

Autor(in): Simon Demmelhuber

Sprecher(in): Ilse Neubauer

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

Und was, wenn doch? Die Frage kommt so leicht daher. Aber sie kann Götzen zerschlagen, Dogmen und Denkverbote sprengen. Vorausgesetzt, es bleibt nicht beim Reden. Gepaart mit Mut, Eigensinn, Ausdauer und einem Schuss Abenteuerlust hebt sie die Welt aus den Angeln. Tim Severin ist mit all dem reich gesegnet. Schon der Geschichts- und Geographiestudent macht seinen Oxforder Lehrern das Leben schwer. Zementierte Wahrheiten und Glaubenssätze schüchtern ihn nicht ein. Dazu steckt ihm der Neugierstachel zu tief im Fleisch.

Die Legende vom Land im Westen

Als Severin auf die mittelalterliche Legende von der Meerfahrt des heiligen Brendan stößt, bohrt der Dorn heftig. Die Geschichte erzählt, wie der irische Abt mit zwölf Mönchen in einem Lederboot auszieht, das irdische Paradies zu suchen. Auf ihrer Seereise streifen die Mönche wundersame Inseln, sehen Feuerberge und schwimmende Eispaläste, bestaunen Riesenfische und Seeungeheuer, finden zuletzt ganz im Westen ein wald- und wildreiches Land voll süßer Flüsse und milden Lichts. Ein frommes Märchen, buntes Seemannsgarn, mehr nicht.

Aber da ist vieles, das Severin stutzig macht. Abt Brendan hat wirklich gelebt, im 6. Jahrhundert, an der Westküste Irlands. Dass die frühen Mönche tüchtige Seefahrer waren, ist verbürgt. Zudem stimmen auffällig viele Details mit erkennbaren Landmarken und Naturphänomenen des Nordmeers überein. Alles nur Zufall? Oder doch mehr? Ist die Geschichte um einen Kern realer Reiseberichte gesponnen, geht sie auf wahre Missions- und Erkundungsfahrten zurück? Kann es sein, dass irische Mönche Amerika schon lange vor Eriksson oder Kolumbus erreichten?

"Unsinn", schnaubt die Gelehrtenzunft. "Ohne Karten, ohne Kompass durchs Polarmeer? In einem Lederboot? Lächerlich, völlig absurd!" Und was, wenn doch? Severin zappelt am Haken. Er will, er muss es prüfen und baut ein Boot, das den Vorgaben der Legende entspricht. Nach drei Jahren ist die Brendan fertig: Ein Gerüst aus Eschen- und Eichenspanten, mit Ochsenhaut bespannt, 12 Meter lang, vier Ruder, zwei Masten, grobe Leinensegel.

Was, wenn doch?

Im Mai 1976 sticht die Brendan mit fünf Mann in See. Die erste Etappe führt von der irischen Westküste über die Hebriden und die Färöer nach Island. 1500 Meilen verschärftes Wogen-Rodeo, acht Wochen zwischen Euphorie und Todesangst. Die Brendan rollt und stampft, taucht hart ein unter haushohen Brechern, aber sie hält! Nach kurzer Winterpause kämpft sich die Crew bis an die Südspitze Grönlands vor, nimmt Kurs auf Neufundland. Wieder 50 Tage Verlassenheit, Kälte, Nässe und knapp vor dem Ziel ein letzter Schrecken: Das Packeis vor Labrador reißt ein Loch in die Lederhaut. Ein Flicken, mit bloßen Händen im Eiswasser aufgenäht, rettet Mannschaft und Boot.

Dann endlich - Land! Am 26. Juni 1977 macht die Brendan auf Peckford Island vor der Küste Neufundlands fest. Tim Severin und seine Gefährten haben das Nordmeer in einem Lederboot bezwungen. Abt Brendan und seine Mönche könnten Amerika also tatsächlich erreicht haben. Unmöglich ist es jedenfalls nicht. Jetzt nicht mehr. Tusch und Hurra für ein großes, wildes, strahlendes was, wenn doch!


5