Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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6. Juli 1919 Magnus Hirschfeld eröffnet sein Institut für Sexualwissenschaft

Empfängnisverhütung, Kinderlosigkeit, Potenzstörung - auf sämtliche Fragen zum Thema Sexualität gab Magnus Hirschfeld antworten. Auch kostenlos. Offen, revolutionär, bunt - Hirschfeld galt in der Weimarer Zeit als die Adresse. Tausende wandten sich an seine Forschungs- und Beratungseinrichtung. Autorin: Julia Devlin

Stand: 06.07.2022 | Archiv

06 Juli

Mittwoch, 06. Juli 2022

Autor(in): Julia Devlin

Sprecher(in): Johannes Hitzelberger

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Susi Weichselbaumer

Es gibt Zeiten, da scheint sich die Zeit anders zu verhalten als sonst. Als ob die Zahnräder in einem gigantischen Uhrwerk plötzlich einen Turbo einlegten und die Menschen in eine neue Epoche katapultierten. So eine Zeit scheint im Rückblick die kurze turbulente Weimarer Republik zu sein, als Deutschland vom 19. Jahrhundert in die Moderne sprang. Ein Ausdruck dieser Moderne war unter anderem ein ziemlich modernes Gesundheitswesen. In der Weimarer Zeit wurde der Wohlfahrtsstaat rapide ausgebaut. Die Gesundheit der Bevölkerung rückte ins Interesse. Kliniken sprangen aus dem Boden, es wurden Beratungszentren und Gesundheitseinrichtungen an Schulen gegründet, die Schwangeren- und Mütterberatung eingerichtet.

Gesund überall

Das Epizentrum dieser neuen Zeit war Berlin, das chaotische, laute, rasende Berlin. Hier eröffnete am 6. Juli 1919 der Arzt Dr. Magnus Hirschfeld das Institut für Sexualwissenschaft, eine Forschungs- und Beratungseinrichtung. Magnus Hirschfeld war exzentrisch, radikal und streitbar. Er hatte seit Jahren dafür gekämpft, dass Homosexualität nicht mehr strafbar sein sollte. "Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit" war sein Motto. Sein Forschungsinstitut sollte eine Rationalisierungsinstanz in dem emotionalen und kriminalisierten Feld der gleichgeschlechtlichen Liebe werden.

Ganzheitliche Beratung

Neben dem Forschungsinstitut entstand eine Beratungsklinik, an die sich Ratsuchende mit sämtlichen Fragen zur sexuellen Gesundheit wenden konnten. Geschlechtskrankheiten, ungewollte Schwangerschaft, Potenzstörungen, Kinderlosigkeit, Empfängnisverhütung, Fragen sexueller Identität - all dies wurde in Hirschfelds Institut pragmatisch und, wenn es sein musste, kostenfrei behandelt. Schon im ersten Jahr wurden über 18.000 Ratsuchende gezählt. Auch anonyme Beratungen wurden durchgeführt. Dafür konnten Zettel mit Fragen in einen Briefkasten geworfen werden, die dann in einem Frageabend beantwortet wurden.

Das Institut wurde bekannt und berühmt, Forschende aus der ganzen Welt gaben sich in der repräsentativen Villa in Berlin-Tiergarten die Klinke in die Hand.

Dann gibt es Zeiten, da scheint die Zeit sich plötzlich wieder ganz anders zu verhalten. Als ob die Zahnräder in einem gigantischen Uhrwerk plötzlich knirschten, langsamer würden, zum Stillstand kämen und dann begönnen, sich in die andere Richtung zu drehen. Im Mai 1933 stürmten braune Horden das Institut, zerschlugen das Mobiliar und rissen die Bücher aus den Regalen. Sie brannten wenig später auf den Scheiterhaufen der Bücherverbrennung.

Magnus Hirschfeld hielt sich zu der Zeit gerade im Ausland auf. Das war sein Glück. Schwul und jüdisch, das hätten ihm die Menschen, die das Rad zurückdrehen wollten, nicht verziehen. Die lodernden Scheiterhaufen auf dem Berliner Opernplatz sah er in einer Nachrichtenschau in einem Kino in Paris. Die Zerstörung seines Lebenswerks hat er nicht lange überlebt. Er starb zwei Jahre später.


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