Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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9. Juni 2015 Ingeborg Rapoport erhält im Alter von 102 ihre Promotionsurkunde

Mit 102 Jahren legte Ingeborg Rapoport erfolgreich ihre Promotion zum aktuellen Stand der Diphterieforschung ab, da es ihr zur Zeit des Nationalsozialismus aufgrund der geltenden Rassengesetze verboten wurde. Mit der am 09. Juni 2015 erhaltenen Promotionsurkunde ist sie damit die älteste Promovandin überhaupt. Autor: Patrick Schönberger

Stand: 09.06.2023 | Archiv

09 Juni

Freitag, 09. Juni 2023

Autor(in): Patrick Schönberger

Sprecher(in): Irina Wanka

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

Glasklar - man geht in die Uni und genießt das Studentenleben. Und zwar möglichst sorglos mit allem was dazu gehört. Wenn man bis zum Ende durchhält, warten heutzutage der Bachelor und Master auf einen. Und dann das Berufsleben. Meist mit einem klassischen 9-to-5-job. Wie langweilig! Dann doch lieber weitermachen – sich Doktor schimpfen, in die Forschung gehen ... Also Doktorvater finden, Dissertation schreiben und dann verteidigen. Normalerweise. Es soll ja sogar vorkommen, dass man sich erst viele Jahre später dazu entschließt ...

Früher war nicht immer alles besser

Meist verlaufen Doktorarbeiten nicht nach Plan. Auch nicht bei Ingeborg Rapoport, geborene Syllm, Tochter eines Hamburger Kaufmanns und einer Konzertpianistin, geboren 1912 in Kamerun. Nach Ingeborgs Geburt zog die Familie nach Hamburg, ihre Eltern trennten sich, als sie 16 war. Aus Protest gegen den Antisemitismus konvertierte Ingeborgs Mutter 1933 zum Judentum, der Religion ihrer Großmutter.
Nach dem erfolgreichen Abschluss an einer privaten Mädchenschule begann Ingeborg Syllm 1932 ihr Medizinstudium an der Universität Hamburg. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 bekam die junge Studentin die gelbe Studentenkarte in die Hand gedrückt - eine Stigmatisierung ihrer jüdischen Wurzeln. Fortan spürte sie die Benachteiligung und Missachtung ihrer Kommilitonen und Professoren während des Studiums. Dennoch biss sie sich durch und legte 1937 erfolgreich ihr Staatsexamen ab. Dank ihrer guten Leistungen bekam sie eine Stelle als Assistenzärztin im Israelitischen Krankenhaus in Hamburg angeboten und begann, an ihrer Doktorarbeit zu schreiben.

Aufgrund der Rassengesetze wurde Ingeborg Syllm 1938 wie viele andere nicht zur mündlichen Prüfung zugelassen. Sie bekam von ihrem Doktorvater lediglich ein Schreiben, dass sie ihre Doktorarbeit zur aktuellen Forschung der Diphterie eingereicht habe, aber nicht zur Prüfung zugelassen wird. Daraufhin floh sie kurz vor der Pogromnacht im September 1938 in die Vereinigten Staaten, um dort ein neues Leben zu beginnen.

1946 heiratet sie Samuel Mitja Rapoport, den sie an der Universität kennen- und lieben lernt. Mit ihm zieht Ingeborg nach dem Krieg zurück nach Deutschland, in die ehemalige DDR, wo sie ab 1959 lange über ihre Emeritierung hinaus an der Berliner Charité zur Kinderheilkunde lehrt und forscht.

Mit 102 Jahren fängt der Doktor an

Zu Rapoports hundertstem Geburtstag erfuhr Uwe Koch-Gromus, der Dekan der medizinischen Fakultät der Uni Hamburg, von dem Unrecht und Leid, das ihr zur Zeit des Nationalsozialismus widerfahren war. Für ihn war klar: Ingeborg Rapoport muss die Chance auf ihre Promotion bekommen! Im Mai 2015 legte sie mit 102 Jahren als älteste Doktorandin überhaupt die noch fehlende mündliche Prüfung zum aktuellsten Forschungsstand der Diphterie ab - mit magna cum laude. Am 09. Juni 2015 wurde ihr feierlich die Promotionsurkunde überreicht. Ihre Motivation: "Ich habe meine Promotion für die Opfer gemacht."
Rund zwei Jahre später stirbt Ingeborg Rapoport in Berlin.
Ihre nachträgliche Promotion war gegen das Vergessen - fachlich auf dem neuesten Stand und zugleich ein Stück Aufarbeitung der dunkelsten Seiten deutscher Universitäts- und Hochschulgeschichte.


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