Bayern 2 - Das Kalenderblatt


1

20. Mai 1960 Fellinis „Dolce Vita“ erhält Goldene Palme in Cannes

Fellinis "La Dolce Vita": ein Film über das rauschhafte Leben zwischen Straßenflirt und Party und die existenziellen Fragen des Lebens. Autorin: Christiane Neukirch

Stand: 20.05.2021 | Archiv

20 Mai

Donnerstag, 20. Mai 2021

Autor(in): Christiane Neukirch

Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

Es war ein Pakt auf Gegenseitigkeit: Rom erschuf Fellini. Und Fellini erschuf Rom. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg schrieb sich ein Student namens Frederico Fellini an der Universität zu Rom ein. Fellini war bis dahin, so sagen Biografen, ein x-beliebiges Kind gewesen, das hübsch zeichnen konnte. Mit Karikaturen und kleinen Comicstrips in Zeitschriften verdiente er sich als Jugendlicher ein bisschen Geld.

Die größte Kulisse der Welt

Dann kam Rom – und brannte sich mit der Strahlkraft eines italienischen Sommers in die Seele des jungen Mannes ein. Rom, muss man wissen, ist keine Tatsache. Rom ist eine Vorstellung, kreiert von vielen hundert Regisseuren, die in mehr als zweieinhalb Jahrtausenden eine Kulisse schufen für die Inszenierung ihrer Fantasien. Nicht eine kleine Theaterkulisse, nein, der Superlativ musste es sein: der "Circus Maximus", das größte aller Festspielhäuser, das "Colosseum", dessen Name für alles steht, was riesig ist, kaiserliche Paläste und Wahrzeichen wie der Trevi-Brunnen und die Spanische Treppe. All das entfachte in Fellini eine Begeisterung, die ihn nie losließ. Er begann zu schreiben: erst Bücher, dann Drehbücher. Doch Rom verlangt nach Bildern. Eine filmische Liebeserklärung war fällig. Fellini führte Regie.

Ein Film im Rausch

Im Jahr 1960 kommt sie in die Kinos, in Gestalt von Fellinis Film "La Dolce Vita" – zu Deutsch: "Das süße Leben". Das süße Leben, das heißt: das Leben der Reichen und Schönen – in altrömischer Orgientradition; ein Leben im Rausch der Ablenkung, der Selbstinszenierung, des Gesehen-werden-Wollens – aber auch der Flucht vor den Papparazzi  und vor sich selbst.

Hauptfigur des Films ist die Stadt, eine Nachtschönheit in Schwarzweiß. Im grellen Licht der südlichen Sonne verblasst sie, doch in der Nacht beginnt sie zu leuchten und ihre Geheimnisse zu enthüllen. Die Menschen sind in den Häusern verschwunden, der Blick auf die Stadt wird frei. Und ebenso der Blick auf den dunklen Abgrund der Seele, der sich auftut, wenn die Ablenkung des Feierrausches fehlt. In der Stille der öden Straßen meldet sich der fade Nachgeschmack des Luxuslebens. Fellinis Hommage löst bei Kritikern heftige Reaktionen aus, Empörung ebenso wie Bewunderung. Letztere überwiegt: Am  20. Mai 1960 erhält der Film bei den Festspielen in Cannes die höchste Auszeichnung, die "Goldene Palme".

Fellini konnte nicht ahnen, dass ein anderer Regisseur exakt 60 Jahre später in seine Fußstapfen treten würde, diesmal nicht auf der Leinwand, sondern in Wirklichkeit: ein winziger Molekülhaufen namens SARS-CoVid 2, alias "Corona-Virus" fegte Roms Straßen leer, diesmal auch am helllichten Tag. Vielleicht war Fellinis Film gewissermaßen die Ankündigung für eine viel gewaltiger inszenierte Offenbarung, ein Innehalten im großen Stil, das plötzlich auch diejenigen zwingt, die bisher nur auf den Zuschauersesseln saßen, den Blick zu weiten und sich mit den Fragen ans Wesentliche im Leben zu befassen.

Auf jeden Fall gedeiht auf dem Boden leerer Plätze und Straßen die Sehnsucht nach einem ganz anderen süßen Leben, nämlich dem einfachen. Das heißt: ein Eis in der Sonne, der Genuss, sich reuelos unter Menschen zu mischen und sich vom pulsierenden Rhythmus der neu erwachten Stadt anstecken zu lassen.


1