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17. August 1908 Erster Zeichentrickfilm

Eine Hand, die Strichmännchen ins Abenteuer schickt: Das ist die Idee von Émile Cohl für den ersten Zeichentrickfilm. Eine Idee, die begeistert und Nachahmer findet. Cartoon-Filme treten den Siegeszug an. Autorin: Anja Mösing

Stand: 17.08.2020 | Archiv

17 August

Montag, 17. August 2020

Autor(in): Anja Mösing

Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

Mut, der gehört bei einem Karikaturisten quasi zur Grundausstattung.

Frech sein natürlich auch! Und irgendwie war es beides. Damals, als er in einem Film seine eigene Hand zeigte, riesengroß! Gleich im ersten Bild: Seine Hand, die macht, was sie auch sonst machte: Einen kurzen, feinen Pinsel halten und zeichnen!

Nur zeichnet sie jetzt Strich für Strich ein einfaches Männchen: mit kreisrundem Kopf, spitzem Hut und Pluderhosen. Das Pluderhosen-Männchen hängt an den Armen von einer Linie an der oberen Bildkante einfach nach unten.

Wirklich virtuos gemalt ist das alles nicht. Eher extrem simpel. Es schaut so aus, wie ein Kind malen würde: Alles besteht nur Umrisslinien. Aber das Besondere kommt erst noch:

Strich für Strich

Nachdem das Männchen fertig gezeichnet ist und sich die Hand schon aus dem Bild zurückgezogen hat, bewegt es sich plötzlich von selbst! Das Pluderhosenmännchen zieht die Linie, an der es eben noch selbst gehangen hat, nach unten, so als würde es eine Leinwand entrollen. Und schon sind wir Zeugen eines Spektakels: Das Männchen kugelt aus dem Bild, andere Akteure tauchen auf, verändern dauernd ihre Gestalt, das Pluderhosenmännchen kommt wieder herein gekugelt und muss gefährliche Situationen meistern: Zum Beispiel Korken einer gigantischen Sektflasche ausweichen, in die es dann selbst hineingerät. Aber die Flasche verwandelt sich zum Glück in eine Knospe, die aufblüht und das Pluderhosenmännchen kann einfach herausspringen.

Linie für Linie

In rasantem Tempo laufen diese Verwandlungen ab. Kurz tauchen die Hände des Zeichners auf und reparieren das Männchen. Und plötzlich ist alles vorbei.

Nicht mal zwei Minuten dauert dieser kleine Film und war doch eine Sensation, als er unter dem Titel Fantasmagorie am 17. August 1908 im Pariser Théatre du Gymnase zum ersten Mal gezeigt wurde.

Der erste komplett auf Papier gezeichnete und dann – samt echter Zeichnerhand – abfotografierte Film der Welt. Also: der erste Zeichentrickfilm!

Noch ganz in Schwarz-Weiß und völlig ohne Geräusche oder Musik. Aber Fantasmagorie macht den Mann, der zur Hand im Bild gehört, bis heute berühmt: Émile Cohl.

Alle 700 Zeichnungen hatte Émile Cohl für diesen Zeichentrickfilm selbst angefertigt.

Als frisch Angestellter bei Gaumont. Eine der frühen Filmfirmen Frankreichs. Als Karikaturist und Autor war er mit seinen 51 Jahren ein alter und bekannter Hase in der brodelnden Kunst-Szene vom Paris der Jahrhundertwende.

Wie man Pointen setzt, wieviel Bilder es braucht, um einen Gag vorzubereiten, die ganze Palette des gezeichneten Humors und der politischen Satire hatte Cohl lange in Paris und in London praktiziert. Nun entwickelte er ein Know-How als Zeichentrickfilmer, machte Wochenschauen und Trickfilme im dritten Großstadt-Labor der Moderne: in New York.

Émile Eugene Jean Luis Courtet - wie er eigentlich hieß, hat über 300 Filme gedreht, Film-Erfindungen ausgetüftelt und viele Film-Kollegen inspiriert. Aber der Ritterschlag seines Künstlerlebens bleiben bis heute die zwei Minuten, in denen wir sehen, wie er als Erster ein einfaches Strichmännchen zum Leben erweckt.


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