Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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3. Januar 1980 Deutsche Bundespost führt den 8-Minuten-Takt bei Ortsgesprächen ein

Ratschen bis das Ohr brennt, das war vorbei, also die Deutsche Bundespost an den Telefonzellen den 8-Minuten-Takt einführte und abkassierte bei Gern-Rednerinnen und Viel-Sprecherinnen. Prompt schaffte man sich das Gerät für daheim an, um billiger wieder zu ratschen, bis das Ohr glüht… Autor: Christian Jungwirth

Stand: 03.01.2022 | Archiv

03 Januar

Montag, 03. Januar 2022

Autor(in): Christian Jungwirth

Sprecher(in): Johannes Hitzelberger

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

Takt besteht darin, dass man weiß, wie weit man zu weit gehen darf. Das hat der französische Maler und Schriftsteller Jean Cocteau im 20. Jahrhundert sehr trefflich erkannt. Nun, ob der ehemalige Bundespostminister Kurt Gscheidle jenes Zitat zu Lebzeiten kannte, ist unklar. Falls doch, hätte er sich und seinen Landsleuten ja vielleicht eine der größten Taktlosigkeiten erspart, denen sich die damalige Bundesrepublik Deutschland ausgesetzt sah. Was war passiert? Das Recht der freien Rede wurde beschnitten.

Ausgesprochen!

Um Gottes Willen, nicht im Inhalt - aber in der Dauer! Kurt Gscheidle, SPD-Politiker und zudem sparsamer Schwabe, hatte Ende der Siebziger Jahre erste Ideen ersonnen, um Telefonieren im Ortsnetz auf neue Füße zu stellen. Bis dato genügen 20 Pfennige, also zwei Groschen, um in der Telefonzelle ohne Zeitlimit zu reden, bis die Zunge franst oder sich Unmut in der Warteschlange vor der Zelle regt. Ein Draufzahlgeschäft für die gute alte Bundespost. Bis Herr Gscheidle per Gesetz ordentlich zulangt. Am 3. Januar 1980 führt er im damaligen Westdeutschland den berüchtigten 8-Minuten-Takt fürs Ortgespräch ein, zu je 23 Pfennig pro Einheit, also knapp 11 Cent. Der bis dahin von der Post propagierte Appell "Fasse Dich kurz" auf die Spitze getrieben!

Fass Dich ganz ganz kurz!

Entsprechend tumultartig sind die Reaktionen im Land der Dichter und Denker. Punktabzug für den taktlosen Kurt Gscheidle! Immer die Uhr im Blick haben beim Pläuschle mit Erbtante Herta oder dem Quatschen mit der besten Freundin? Frechheit! Und was, wenn man endlos in der Warteschleife einer Behörde oder Firma hängt?

Nachwerfen von Münzen, die man erstmal griffbereit haben muss? Stimmung und Telefonierverhalten im Land kippen. Nix mehr "Ruf doch mal an!" Eltern mahnen daheim ihre Kids, ja nicht die Telefonrechnung zu überziehen, sonst staubt´s beim Taschengeld. Bis 18 Uhr ist der Redespaß auf 8 Minuten getaktet, in der sogenannten Nebenzeit darf 12 Minuten pro Einheit gelabert, gelästert oder gesäuselt werden. Viele gewöhnen sich sogar an, das Plauderstündchen auf spätabends zu verlegen.

Auch sonst passt sich Deutschland an: Mütter staffieren die Kinder mit Münzreserven aus, um im Notfall telefonieren zu können. Und kleine, exakt auf acht Minuten getaktete Sanduhren für Hosen- und Handtasche kommen in Mode. Parallel dazu nimmt die Zahl privater Telefonanschlüsse stetig und massiv zu. Heute hat sich die ganze Aufregung um das Gscheidle-Neujahrs-Edikt von 1980 längst in die Geschichtsbücher verzogen. Nicht zuletzt, weil das Thema nicht mehr nachvollziehbar ist. Nahezu alle Menschen sind mobil unterwegs, es darf via Flatrate ohne Zeitlimit telefoniert werden. Ach ja, und der Begriff "Takt" hat in puncto Telekommunikation unserer Tage bisweilen eher gesprächsinhaltlichen Charakter...


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