Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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4. Januar 1807 Caroline von Schelling stellt Welt Armutszeugnis aus

Manchmal muss man den Zeiten sagen, dass es sie so wie sie sind, nicht gut sind und vor allen Dingen, dass es nicht so weitergehen kann. Auch Caroline Schelling hat eines Abends das Gefühl, man müsse der Welt ein Armutszeugnis ausstellen. Allerdings eins mit der Hoffnung auf Besserung. Autor: Simon Demmelhuber

Stand: 04.01.2023 | Archiv

04 Januar

Mittwoch, 04. Januar 2023

Autor(in): Simon Demmelhuber

Sprecher(in): Irina Wanka

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Susi Weichselbaumer

Es ist spät geworden am 4. Januar 1807. Doch Caroline Schelling hat ihr tägliches Schreibpensum noch nicht erledigt, und dieser Brief muss unbedingt gleich morgen früh auf die Post. Ihre Herzensfreundin Luise wartet in Gotha schon gewiss voller Ungeduld auf Neujahrsgrüße aus München. Außerdem sind Briefe ohnehin Carolines große Leidenschaft. Und nicht bloß ihre. Die Jahre um 1800 sind eine tinten- und papierberauschte Zeit. Alle schreiben Briefe, nicht nur um Nachrichten auszutauschen oder Geschäfte abzuwickeln. Das literarisch empfindsame Bürgertum hat den Brief zum Hochaltar kunstvoll zelebrierter Geselligkeits- und Freundschaftspflege aufgeputzt, nutzt ihn als Bühne vertraulicher Herzensergießung und Selbstinszenierung.

Herzlich, Dein ...

Caroline Schelling beherrscht das Genre virtuos. Ihre Briefe funkeln, sind witzig, spöttisch, klug, mitunter vergnügt plaudernd, dann wieder nachdenklich, anrührend ehrlich und herzlich zugewandt. Gewöhnlich geht ihr das Schreiben auch leicht von der Hand, aber nicht heute. Immer wieder schlüpft der Kopf zurück nach Jena, zurück in das Haus, in dem sie und August Schlegel einen gärenden Kreis junger Maler, Dichter und Philosophen um sich scharten.

Ach Jena! Jena und seine verrückten, wilden Aufbruchsjahre! Man isst, trinkt, streitet, schreibt und wohnt zusammen, teilt Gedanken, Visionen, gelegentlich auch die Betten, mischt aus Leben, Lieben, Sehnsucht und Poesie das Zaubergebräu der Frühromantik.

Hach!

Vorbei, vergangen, dahin! Das romantische Experiment ist Fragment, die Verzauberung der Welt ein Versuch geblieben. Novalis ist tot, Brentano, Tieck, die Brüder Schlegel, Fichte sind in alle Winde zerstreut.

Wie es den Freunden, wie es Luise und ihren Kindern wohl geht? Es sind böse Zeiten. Napoleons Armeen und die seiner Gegner graben Europa mit Kanonen um, sie morden, plündern, rauben und ertränken die Erde in Blut. Auch aus Gotha, wo Luise lebt, sickert Schlimmes durch: Dort treibt der Krieg mit versprengten und verwundeten Soldaten ganze Scharen entwurzelter Menschen vor sich her. Krankheiten gehen um; Brot, Fleisch, Gemüse sind so teuer geworden, dass die Wenigsten sich satt essen können. Und mittendrin in diesem Höllentreiben sinnloser Gewalt und Verwüstung die arme Luise samt Familie!

In München, wo Caroline und ihr dritter Mann, der Philosoph August Schelling, nun seit einem halben Jahr wohnen, ist der Krieg nicht mehr als eine unwirkliche Erzählung. "Hier ist alles sehr stille", beginnt sie ihren Brief, "gerade so, als wenn ich auf dem Lande lebte." Trotzdem weiß sie genau und schreibt auch nieder, was da draußen um sie herum an Gräueln geschieht: "Wie zerrissen sieht es aus in der Welt: Welche Unsumme von Elend, vernichtetem Wohlstand, Schlechtigkeit, welches Unmaß moralischer Verwirrung, welch gänzlicher Mangel an Sicherheit! Wie mag wohl denen zu Mute sein, die wirklich drinstecken und zu denen nicht alles nur als Bericht über ein fernes Geschehen dringt!"

Du liebe, du gute, du alte, dumme, schreckliche Welt! Viel Glück im Neuen Jahr, du kannst es brauchen!


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