Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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6. Juli 1888 Aufstand der Streichholzmädchen

Hungerlöhne und menschenunwürdige Arbeitsverhältnisse herrschten in der in der Londoner Zündholzfabrik von Bryant und May. Annie Besant griff in einem Zeitungsartikel diese "Sklaverei" scharf an. Die Streichholzmädchen traten in den Streik und gründeten schließlich eine Gewerkschaft - wegweisend für ganz Europa. Autorin: Katharina Hübel

Stand: 06.07.2023 | Archiv

06 Juli

Donnerstag, 06. Juli 2023

Autor(in): Katharina Hübel

Sprecher(in): Irina Wanka

Redaktion: Susi Weichselbaumer

1888. Im Osten von London. Fairfield Road. Es ist die Zeit von Sherlock Holmes und Jack the Ripper - und London eine bereits stark industrialisierte Metropole. Männer sitzen im Parlament, Männer machen das große Geld. Inmitten dieses Szenarios ereignet sich eben da, wo die Ärmsten der Arbeiter leben, der Aufstand der Streichholzmädchen. Bryant und May ist damals eine DER Streichholzfabriken Londons. In der Fairfield Road errichten sie einen repräsentativen Firmenbau: Roter Backstein. Türmchen. Schmiedeeisernes Schnörkeltor. Seit 1880 exportieren Bryant und May, sie haben 5.000 Arbeiterinnen und Arbeiter bei sich beschäftigt.

Ausbeutung und tödlicher Phosphor

Kinder ab sechs Jahren, Jugendliche. Vor allem junge, ungelernte Mädchen. Die Arbeitszeiten betragen zwischen zwölf und vierzehn Stunden, sechs Tage die Woche. Manches, was sie für die Arbeit brauchen, müssen die Arbeiterinnen sogar selbst finanzieren - wie Klebstoff. Außerdem gibt es immer wieder Lohnabzug, willkürlich vom Aufseher verhängt: wegen zu spät Kommens, unordentlicher Arbeitsplätze, weil ein Mädchen etwas fallen gelassen hat oder sie miteinander sprechen; auch: wegen schmutziger Füße. Schuhe besitzen die wenigsten der Streichholzmädchen. Die Aufseher misshandeln die Arbeiterinnen teilweise auch. Alles schlimm genug. Aber das, was den Mädchen am meisten zusetzt, ist, dass sie in der Fabrik ihr Leben riskieren. Um die Streichhölzer herzustellen, tauchen sie Pappelhölzer in weißen Phosphor; hoch giftig und krebserregend. Die Haut verfärbt sich gelb, die Haare fallen aus, die Kieferknochen verrotten. Extrem schmerzhaft - und: tödlich. Roter Phosphor ist zwar schon als Alternative für die Zündköpfe der Streichhölzer entdeckt - aber teurer im Einkauf.
Bryant und May lassen ihre Arbeiterinnen daher weiter mit weißem Phosphor hantieren. Wer krank aussieht, wird kurzerhand aus der Fabrik geschmissen.

Der Beginn einer Bewegung

Eine der wenigen Frauenrechtlerinnen, die es um 1888 gibt, ist Annie Besant. Sie hat eine eigene Zeitschrift, die sich mit Arbeitsrecht befasst. Sie bekommt Wind von den Zuständen bei Bryant und May und schreibt von "weißer Sklaverei". Ein Artikel, der für heftige Diskussionen in London sorgt. Bryant und May üben Druck auf ihre Arbeiterinnen aus: Sie sollen unterschreiben, dass das Lügen seien. Doch das Gegenteil passiert: Die Streichholzmädchen aus dem Londoner Osten, die ungelernten Arbeiterinnen, die von keiner Gewerkschaft vertreten werden, tun sich mit Annie Besant zusammen. Am 6. Juli 1888 streiken 1.500 Streichholzmädchen. Über Wochen legen sie ihre Arbeit nieder - und riskieren damit ihre ganze Existenz. Am Ende geht die Streichholzfabrik auf ihre Forderungen ein. Und die Streichholzmädchen gründen eine eigene Gewerkschaft, die in Europa eine ganze Bewegung inspiriert.


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