Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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28. Mai 1961 "Amnesty International" wird geboren

Der Mythos, warum "Amnesty International" gegründet wurde, entspricht vielleicht nicht ganz der Wahrheit. Wichtiger aber ist die Arbeit der Vereinigung, die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Autorin: Yvonne Maier

Stand: 28.05.2019 | Archiv

28 Mai

Dienstag, 28. Mai 2019

Autor(in): Yvonne Maier

Sprecher(in): Christian Baumann

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Susi Weichselbaumer

Wir leben ja in einer Empörungszeit. Jeder empört sich lauthals über irgendetwas: Den Klimawandel, die Dieselaffäre, die Veganer. Nur selten entsteht etwas aus so einer - eher privaten - Empörung. Manchmal aber, kann daraus etwas wirklich Großes werden. Der Arbeitsrechtler Peter Benenson hat sich im November 1960 auch sehr empört. Er saß in der Londoner U-Bahn und las einen Zeitungsartikel über zwei junge portugiesische Studenten. Die hatten mit Alkohol angestoßen - auf den Frieden. Das Problem: Zu dieser Zeit war in Portugal der autoritäre Herrscher Antonio de Oliveira Salazar an der Macht. Und der freute sich gar nicht über die friedensliebenden Studenten. Die wurden festgenommen und zu langen Haftstrafen verurteilt. Das stand in dem Artikel - und empörte den britischen Arbeitsrechtler so sehr, am liebsten wäre er sofort in die portugiesische Botschaft gegangen und hätte sich beschwert.

So nicht!

Was er stattdessen tat? Er verfasste selbst einen Artikel in der Sonntagszeitung "The Observer": "Die vergessenen Gefangenen" - so der Titel. Darin schrieb er: "Sie können Ihre Zeitung an jedem beliebigen Tag der Woche aufschlagen und Sie werden in ihr einen Bericht über jemanden finden, der irgendwo in der Welt gefangen genommen, gefoltert oder hingerichtet wird, weil seine Ansichten oder seine Religion seiner Regierung nicht gefallen." In dem Artikel rief er die Leser dazu auf, Briefe an verschiedene Regierungen zu schicken, und sie aufzufordern, solche "vergessenen Gefangenen" freizulassen. Das war am 28. Mai 1961 - der Beginn der Menschenrechtsorganisation "Amnesty International".

Freiheit!

Ein passender Gründungsmythos - ein einzelner empört sich - und wenn sich alle anderen, die ebenfalls empört sind, mit ihm zusammenschließen, dann können auch ganz normale Leute viel bewegen. Doch dieser Gründungsmythos ist vielleicht zu schön, um wahr zu sein.

Das hat zumindest der Journalist Bill Shipsey im Jahr 2011 geschrieben.

Er hat nämlich nachrecherchiert – und mehrere Interviews des Amnesty-Gründers genau durchgelesen. Die ersten Ungereimtheiten finden sich bei den biografischen Fakten: Einmal kommen die Studenten aus Lissabon, ein andermal aus Coimbra. Einmal sind es zwei Männer, einmal ein Mann und eine Frau. Es ist auch nicht klar, ob sie in einer Bar oder einem Restaurant verhaftet wurden - und für zwei, drei, vier, fünf, sechs oder sieben Jahre in Haft gekommen sind. Die portugiesischen Mitarbeiter von Amnesty International waren schon Ende der 1980er Jahre vergeblich auf der Suche nach den mysteriösen, verhafteten Studenten. Peter Benenson gab auch zwei unterschiedliche Termine für die U-Bahn-Fahrt an, einmal im November, ein andermal im Dezember 1960. Vielleicht also gab es diese zwei Studenten gar nicht. Oder es gab sie, aber vielleicht haben sie sich einfach nie zugeprostet, sich nie die Freiheit gewünscht und sind dafür nie ins Gefängnis gegangen. Ob der Gründungsmythos nun stimmt – oder nicht – für "Amnesty International" ist das heute eigentlich egal. Mittlerweile ist sie eine der wichtigsten Organisationen weltweit, die für Menschenrechte eintritt. Dafür wurde sie auch im Jahr 1977 mit dem Friedens-Nobelpreis ausgezeichnet.


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