Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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27. Juli 1890 Van Gogh schießt sich eine Kugel in die Brust

Die böse Geschichte mit dem abgeschnittenen Ohr ist rätselhaft. Warum hat Van Gogh zum Rasiermesser gegriffen und sich selbst verstümmelt? Doch noch rätselhafter ist die Frage, warum er sich später auch noch eine Kugel in den Leib geschossen hat - am 27. Juli 1890.

Stand: 27.07.2011 | Archiv

27 Juli

Mittwoch, 27. Juli 2011

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Redaktion: Thomas Morawetz / Wissenschaft und Bildung

"Und siehe, einer von denen, die mit Jesus waren, reckte die Hand aus und zog sein Schwert und schlug nach des Hohenpriesters Knecht und hieb ihm ein Ohr ab." So steht es im Matthäusevangelium. Die anderen drei Evangelisten schildern den Vorfall am Rande der Gefangennahme Jesu im Garten Gethsemane mit ganz ähnlichen Worten. Johannes erwähnt noch, dass Simon Petrus derjenige war, der zuschlug, und dass der Knecht des Hohenpriesters Malchus hieß. Größere Spekulationen über den genauen Hergang des Geschehens, die Schuldfrage et cetera, wurden, so weit bekannt, nie angestellt.

Das Ohr, dessen der Knecht Malchus verlustig ging, dürfte das berühmteste Ohr überhaupt sein. Was keineswegs heißt, dass nicht auch in der Neuzeit Ohren - gewissermaßen vor den Augen der Öffentlichkeit - abhanden gekommen wären.
Man denke nur an dasjenige, das Entführer 1973 dem Millionenerben Paul Getty jr. abschnitten, oder rufe sich den Boxkampf in Erinnerung, bei dem Mike Tyson 1997 seinem Gegner Evander Holyfield zumindest ein Stück des Ohres abbiss.

Keines dieser Ohren jedoch hat Rätsel aufgegeben, die vergleichbar wären mit jenen um das Ohr von Vincent van Gogh. Dass der geniale Maler in einem Anfall von Schizophrenie selber zum Rasiermesser gegriffen hat, ist die gängigste Version der Geschichte. Ein paar Mediziner glauben, dass van Gogh die Schmerzen, die ihm eine Mittelohrentzündung bereitete, nicht mehr ertragen konnte, andere reden von Epilepsie, wieder andere von Stoffwechselstörungen.
Experten, die eher zu psychologischen Erklärungen neigen, erblicken die Ursache in van Goghs religiösem Fanatismus und meinen, der Maler habe sich zum Märtyrer stilisieren wollen, und schließlich gibt es noch die Ansicht, dass es sich überhaupt nicht um einen Akt der Selbstverstümmelung handelte.

Vincent van Gogh lebte nämlich zu jener Zeit - es war im Jahr 1888 - im südfranzösischen Arles für gut zwei Monate unter einem Dach mit seinem Künstlerkollegen Paul Gauguin. Wenn die beiden nicht malten, soffen und stritten sie miteinander.
Bei einer ihrer Auseinandersetzungen soll Gauguin zum Messer gegriffen und das Ohr erwischt haben. Tatsache ist, dass er Arles kurz darauf fluchtartig verließ und Vincent allein zurückblieb - nervlich zerrüttet, geplagt von Angstzuständen, Wahnvorstellungen, Depressionen.

Zuerst begab sich van Gogh in eine private Nervenheilanstalt, in der er fast ein Jahr lang blieb, im folgenden Frühling zog er nach Auvers-sur-Oise, nahe Paris. Er arbeitete unablässig, fiel förmlich in einen Schaffensrausch. Er malte die Kornfelder und den Sternenhimmel, malte die strohgedeckten Hütten und die Häuser von Auvers, malte Porträts von deren Bewohnern und von seinem Arzt, malte sich selbst mit abgeschnittenem Ohr.
Er verkaufte so gut wie nichts, lebte vielmehr von der finanziellen Unterstützung des Bruders.

Und dann, am  27. Juli 1890, schoss er sich eine Kugel in die Brust. Warum? Manche glauben, dass er seinem Bruder nicht mehr zur Last fallen wollte. Andere halten es für möglich, dass er mit dem Tod den Verkauf seiner Bilder fördern wollte - zu Gunsten des Bruders. Wieder andere glauben an eine unglückliche Liebe. Zwei Tage nach dem Schuss starb er, und natürlich ist es auch denkbar, dass er sich gar nicht töten, sondern nur einen Hilfeschrei ausstoßen wollte. Was ihn wirklich bewegte, weiß niemand. Auch wir nicht.
Trotzdem: Danke, dass Sie uns ein Ohr geliehen haben.


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