Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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14. September 1892 Hermann Hesses Brief an den Vater

Ein einfacher Junge war Hermann Hesse nicht. Nach einem Selbstmordversuch hatten ihn die Eltern in eine Nervenheilanstalt geschickt. Von dort schrieb der 15-Jährige am 14. September 1892 den "Brief an den Vater", der vor allem eines bezeugt: einen wunderbar ausgeprägten Eigensinn.

Stand: 14.09.2010 | Archiv

14 September

Dienstag, 14. September 2010

Autor(in): Constantin Kilian

Sprecher(in): Johannes Hitzelberger

Redaktion: Thomas Morawetz / Wissenschaft und Bildung

"Eine Tugend gibt es, die liebe ich sehr, eine einzige. Sie heißt Eigensinn." Diesen schönen Satz schrieb ein deutscher Dichter, der bereits ein halbes Jahrhundert tot ist, aber immer noch unzählige Leser hat: Hermann Hesse.

Was ist es, das diesen Schriftsteller so zeitlos und immer wieder aufs Neue beliebt macht, besonders bei jüngeren Lesern, die auf der Suche nach ihrem eigenen Weg sind? Er misstraut allen Instanzen, den Schulen, den Lehrern, den Eltern, den Gesetzen. Und ein Gesetz rückt er an die erste Stelle: "Sei du selbst". Dieses Motto, das sich bei Hesse wie ein Leitfaden durch fast alle seine Werke zieht, hat eine große Anziehungskraft für Individualisten und besonders für Menschen, die auf der Suche sind, nach etwas Größerem, etwas Wichtigem, wegen dem es sich zu leben lohnt, vielleicht sogar nach dem Sinn des Lebens.

Hermann Hesse war ein großer Briefeschreiber. Nach Schätzungen schrieb er etwa 35.000 Briefe. Und wie früh der Eigensinn bei ihm entwickelt war, zeigt sich in dem berühmt gewordenen "Brief an den Vater", den der gerade mal 15-Jährige am 14.September 1892 schrieb. Hesse war damals, nachdem er ein Jahr im Kloster Maulbronn Internatszögling war und von dort ausbüchste, in eine Nervenheilanstalt in Stetten verwiesen worden. Er hatte einen Selbstmordversuch hinter sich und schrieb böse und wütend an seinen Vater, den er zum ersten Mal mit Absicht siezte:

"Sehr geehrter Herr!
Da Sie sich so auffällig opferwillig zeigen, darf ich Sie vielleicht um 7 Mark oder gleich um den Revolver bitten. Nachdem Sie mich zur Verzweiflung gebracht, sind Sie doch wohl bereit, mich dieser und sich meiner rasch zu entledigen. Eigentlich hätte ich ja schon im Juni krepieren sollen. Sie schreiben: ‚Wir machen Dir gar keine schrecklichen Vorwürfe’, weil ich über Stetten schimpfe. Dies wäre auch mir durchaus unverständlich, denn das Recht zu schimpfen darf man einem Pessimisten nicht nehmen, weil es sein einziges und letztes ist."

Unterschrieben ist der Brief mit: "H. Hesse, Gefangener im Zuchthaus zu Stetten, wo er ‚nicht zur Strafe’ ist. Ich beginne mir Gedanken zu machen, wer in dieser Affaire schwachsinnig ist."

Der starke Brief zeigte Wirkung. Hesse kam kurz danach zu einem mit der Familie befreundeten Pfarrer nach Basel. Zwei Monate später trat er ins Gymnasium Canstatt ein, wo er im Sommer darauf das "Einjährigen-Examen", die Mittlere Reife, bestand. Doch danach brach der eigensinnige junge Mann die Schule ab und absolvierte zwei Lehren, eine einjährige als Turmuhrenmechaniker in Calw, und eine dreijährige als Buchhändler in Tübingen. Schon damals war sein größter Wunsch, Schriftsteller zu werden. Die nächsten Jahre arbeitete Hesse in zwei angesehenen Antiquariaten in Basel, schrieb für verschiedene Zeitungen und veröffentlichte Gedichte und Erzählungen. Und tatsächlich sollte sich sein unbeirrbarer Eigensinn bestätigen. Bereits mit seinem ersten Roman "Peter Camenzind" feierte Hesse 1904 seinen literarischen Durchbruch. Von nun an konnte er als freier Schriftsteller leben.

Hermann Hesse ist 85 Jahre alt geworden. Immer wieder hat er sich mit seinem Lieblings-Sinn beschäftigt: "Nehmen wir doch das Wort einmal wörtlich! Was heißt denn Eigensinn?", fragte er. "Das, was seinen eigenen Sinn hat. Oder nicht? ... Einen `eigenen Sinn´ nun hat jedes Ding auf Erden, schlechthin jedes. Jeder Stein, jedes Gras, jede Blume, jeder Strauch, jedes Tier wächst, lebt, tut und fühlt lediglich nach seinem `eigenen Sinn´, und darauf beruht es, dass die Welt gut, reich und schön ist." 


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