Presse - Intendantin


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Süddeutsche Zeitung "Hindafing statt Squid Game"

BR-Intendantin Katja Wildermuth über ihren Sender zwischen Binge watching und der Sehnsucht nach klassischem Fernsehen

Stand: 08.12.2021

Dr. Katja Wildermuth im Sommer 2021 vor dem BR | Bild: BR/ Markus Konvalin

Interview: Claudia Tieschky

Katja Wildermuth ist seit Februar Intendantin des viertgrößten ARD-Senders. Erst Ende Oktober beschloss der BR nach langem Zögern, sich wie alle anderen Sender an der geplanten digitalen ARD-Kulturplattform zu beteiligen. Was folgt daraus, dass Streaming zum Maß aller Dinge wird?

SZ: Frau Wildermuth, der BR hat gerade eine "Schwerpunktwoche Kultur" gesendet, die ARD kündigt eine neue Kulturplattform an. Hilft man der Kultur, wenn man ihr ein Sonderlabel gibt?

Katja Wildermuth: Es geht nicht um ein Sonderlabel. Für den BR ist die Kultur immer fester Teil unseres Auftrags in allen Radio- und Fernsehprogrammen und auch online – aber im Fall unseres Programmschwerpunkts eben mit einer besonderen Anstrengung und besonders intensiv. Wir wollen den Begriff Kultur bewusst über die Städte hinaus weiten. Für die Regionalisierungsoffensive des BR, die ich stark und richtig finde und die wir gerade abschließen, ist so ein besonderer Tag im Programm ein guter Auftakt, die Kultur aus den Regionen sichtbarer zu machen, aber kein singuläres Ereignis.

Eine Kulturplattform – das ist doch wie ein Aufkleber "Achtung, Arte". Das grenzt Kultur als Normalität im Programm– was sie sein müsste – eher aus?

Nein, so sehe ich das nicht. Wir merken einfach, dass die Menschen ihrem jeweiligen regionalen Programm sehr treu sind. Es gibt gar nicht so viele Überschneidungen bei der Nutzung von zum Beispiel NDR und BR. Deshalb sind wir als ARD stärker, wenn wir zusammen gehen und gemeinsame Anlaufpunkte haben, wie die Audiothek und Mediathek. Diesem Ziel folgt auch das Kulturportal. Wir wollen den Nutzerinnen und Nutzern eine Tür bieten, damit sie nicht an verschiedenen Orten suchen müssen. Das ist die Idee.

Dann muss man sich die Kulturplattform als Ordnungsinstanz vorstellen, die ARD-Sender sollen dort gar nicht in erster Linie neue Inhalte produzieren?

Wie viel möglicherweise spezifisch fürs Web neu produziert wird, liegt in den Händen des federführenden MDR. Aber ja, die Idee ist: Wenn man Inhalte in die Mediathek und Audiothek stellt, wird das aktiv gesucht und weiterempfohlen. In der digitalenWelt gibt es sehr aktive Gruppen: So bekommen Kulturdokumentationen, Hörspiele, Lesungen eine ganz andere Aufmerksamkeit als im linearen Programm, wo etwas vielleicht weniger wahrgenommen wird oder untergeht.

Ob etwas im linearen Programm untergeht, entscheidet ein Sender dadurch, auf welchem Sendeplatz er es bringt.

Das entscheidet ein Sender heute schon durch die Frage: Wollen wir etwas weiter produzieren oder nicht? Gehen wir da hin, zeichnen wir auf, berichten wir – das ist die erste Frage, auch bei der politischen Berichterstattung. Danach kommt die Frage, wo das Publikum diese Inhalte findet. Ich glaube, dass der Weg im linearen Programm über Ausrufezeichen, über Sonderprogrammierung, über eine Konzentration von Themen eher zunehmen wird – auch vor dem Hintergrund, dass Menschen jetzt "Binge Watching" gewohnt sind, also das Schauen einer Fernsehserie am Stück. Wir werden Sendeschemata vielleicht nicht mehr so starr begreifen. Die viel größere Herausforderung aber ist: Wie schaffen wir Ausrufezeichen im Digitalen, wo es so unendlich viel mehr Angebote gibt, wie schaffen wir dort Sichtbarkeit und Relevanz? Das leistet so eine Woche, das leistet ein spezielles Portal.

Die "Münchner Runde" in Ihrer Kulturwoche zur Lage von Künstlern in der Corona- Misere war ein herausragender, intelligenter Talk, der an den legendären Club 2 im ORF erinnerte. Aber ein Ausrufezeichen lässt sich daran schwer kleben. Geraten solche klugen, leisen Sendungen unter Legitimationsdruck?

Ich glaube, dass die Weise, wie wir bestimmte Dinge wahrnehmen, inzwischen viel ausdifferenzierter ist. Schauen Sie sich Slow- TV an, da strickt jemand live in Norwegen einen Pullover und das geht durch die Decke. Die Menschen hören Podcasts, in denen das Denken mäandert. Ich glaube, dass die Leute nach Stille und Nachdenken geradezu suchen.

Sie haben von Vorgänger Ulrich Wilhelm einen Sonderweg-Sender geerbt, der immer noch seine eigene Mediathek hat, seine IT-Abteilung stärkte, statt Synergien zu suchen, und sich der Kulturplattform verweigerte. Bleibt der BR in der ARD ein Blocker-Klops?

Alle Rundfunkanstalten haben verstanden, dass wir nicht gegeneinander, sondern miteinander arbeiten müssen. Deswegen gibt es auch das Streamingnetzwerk mit dem ZDF. Unabhängig davon bringt natürlich jede Landesrundfunkanstalt bestimmte Stärken ein. Beim BR ist es die Klassik und jetzt neu die Dokumentationen, sowie Wissenschaft und Bildung mit ARD alpha. Die Frage, inwieweit diese Angebote in einer einzigen ARD Mediathek zur Geltung kommen, schauen wir uns in Ruhe an.

Wovon hängt das ab?

Wir wollen, dass es bei allem auch regionale Türen und Zimmer gibt, in die man reingehen kann, wenn man sich für Bayern interessiert. Das ist ein Interesse, das andere Regionen genauso haben. Hier diskutieren wir noch, wie die ARD Mediathek das leisten kann, ich bin sicher, da finden wir auch eine gute Lösung.

Sie müssen für die digitalen Neuheiten anderswo sparen. Wo?

Das erarbeiten wir gerade quer durch den BR, und dann werden wir unsere Schlüsse ziehen. Wir haben das in den letzten Jahren vor allem durch Einsparungen im Verwaltungs- und Technikbereich geschafft. Irgendwann wird das nicht mehr reichen. Unsere Aufgabe aber ist klar: Wir müssen Zielgruppen erreichen, die uns nicht mehr auf linearen Wegen nutzen, und das in einer zunehmend zersplitterten Gesellschaft. Das bedeutet eine Explosion an Inhalten.

Da explodiert dann vermutlich auch das, was ein Sender ist oder einmal war?

Ich meine das vor allem quantitativ. Unser Instagram-Angebot @ichbinsophiescholl, das wir zusammen mit dem SWR produziert haben, wurde ausdrücklich für junge Menschen gemacht, die sich vermutlich keine klassische Doku zu einer bestimmten Uhrzeit ansehen. Das ist sehr erfolgreich. Die Gruppe ist aber sehr viel kleiner und spezifischer als früher die Zuschauergruppe für einen großen Sophie-Scholl-Film um 20.15 Uhr. Das Instagram-Format kostet mehr als ein Tatort, das ist es uns aber wert. Bislang bekamen wir, um diese stark gewachsene Erwartung in den verschiedenen Gruppen der Gesellschaft zu erfüllen, keine zusätzlichen Mittel anerkannt.

Selbst als die Beitragserhöhung blockiert war, haben Sie für den BR festgelegt: Wir sparen nicht am Programm. Das müsste jetzt, wo der Beitrag wieder fließt, ja erst recht Ihre Maxime sein.

Wir müssen überall sparen. Selbstverständlich wird man alle Angebote immer wieder auf den Prüfstand stellen. Da geht es auch um die Personalsituation. Heute kommt ein Reporter von einemTermin zurück mit O-Tönen, einem Video und einem kurzen Text für BR24. Wir werden schauen müssen, wie viel Ausdifferenzierung können wir leisten, wenn wir weiter die Qualität bieten wollen, für die wir stehen?

Welche spektakulären Qualitätsprogramme werden wir demnächst sehen?

Das Dokudrama 1806 –Die Nürnberg Saga zu Weihnachten, über die ewige Frage: Was ist eigentlich zwischen den Franken und dem bayerischen Königreich passiert? 2022 wird unser großartiger Dokumentarfilm Wagner, Bayreuth und der Rest der Welt im BR Fernsehen zusehen sein, außerdem haben wir Der Waldmacher von Volker Schlöndorff im Programm. Besonders gut gefällt mir auch unser Mitmach-Experiment Willkommen in Nachhalting, bei dem eine Gemeinde vier Wochen lang versucht, so wenig Plastikmüllwie möglich zu produzieren. Diese Vielfalt macht uns aus, und auf die achten wir auch. Mit Blick auf Netflix und andere müssen wir uns auch immer fragen: Was machen wir, was andere nicht machen. Das heißt Regionalberichterstattung, Kulturdokus, eine neue Staffel Servus Baby – wir machen Hindafing statt Squid Game.

Ihr Vorgänger Ulrich Wilhelm ist ein glühender Verfechter des Konzertsaalneubaus im Münchner Werksviertel. Der BR ist nicht Bauherr, aber dennoch, wo stehen Sie in dieser Frage?

In der Tat, wir sind nicht der Bauherr. Aber wir haben ein Spitzenorchester mit einem Weltklassedirigenten. Die wollen mit den Möglichkeiten der ersten Digital Concert Hall des 21. Jahrhunderts arbeiten, denn genau das soll das neue Konzerthaus werden: Konzipiert mit Blick auf alle audiovisuellen Möglichkeiten in einem von Grund auf fürs Digitale geplanten Haus plus einem großen, dezidierten Education-Bereich. Da sollen Schulklassen aus dem gesamten Sendegebiet kommen und mit diesen Topmusikern arbeiten können. Das Werksviertel ist ein sehr reizvoller Standortmit einer kreativen Atmosphäre, die ich sehr überzeugend finde und die auch Simon Rattle sehr überzeugend findet.

In der schon erwähnten Münchner Runde sagte der Konzertveranstalter Till Hofmann: "Es wäre halt gut, wenn der BR jede Woche eine Veranstaltung wie diese machen würde, auf der Künstler wie Queen Lizzy eine Bühne haben." Wie wär‘s?

Es ist ein bekanntes Phänomen, und das freut mich sehr, dass Sendezeit offensichtlich wieder etwas Begehrenswertes ist. Und das gerade jetzt, wenn alle von Mediatheken und nonlinearem TV reden. Es läuft jedenfalls allen Prognosen zuwider, die da sagen, das lineare Fernsehen wird keine Relevanz mehr haben. Zeit im Fernsehen ist ein begehrtes Gut, bei Volksmusikern, Sportveranstaltern, politisch Aktiven, Sozialarbeitern – jeder hat das Bedürfnis, dass seine Arbeit gesehen wird, und jeder hat kluge Inhalte beizutragen. Wir werden nächstes Jahr erste Versuche starten, als Sender auch Plattform zu sein für Kulturpartner, Wissenschaftspartner, Bildungspartner. Aber anders als das Internet hat das Fernsehen eben nur 24 Stunden.


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