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Sehnsucht und Schuld: Hörspiel-Preis für "Coldhaven"

Sehnsucht und Schuld: Hörspiel-Preis für "Coldhaven"

Heute Abend nimmt in Köln der schottische Autor John Burnside den renommierten Preis der Kriegsblinden entgegen für sein vom SWR produziertes Hörspiel "Coldhaven". Die Jury erkannte "sprachliche Präzision" und "Lebendigkeit". Von Stephanie Metzger

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

"Es ist ein Ort der Stürme und der starken Winde, an dem es gelegentlich auch schneit. Aber die Tage, in die man sicherinnert, das sind die Tage im Hochsommer, an den Wattvögel über den Sand flitzen und das Dorf vom Sonnenlicht überflutet ist. An solche Tagen werden die Marschen und Dünen heimgesucht von Stimmen der Lebenden und der Toten. Der Menschen und der Vögel und der Robbenwesen. Bevor denn alles wieder verklingt." Ausschnitt aus "Coldhaven"

Stimmen, gespeist von Sehnsucht und Schuld wandern im Raum, Möwenschreie und dumpfe Beats verweben sich zu einem Geräuschteppich, sphärische Melodien und harte Schnitte erzeugen ein Klanglabyrinth, in dem sich das Ohr zu verirren glaubt: "Coldhaven", fiktiver schottischer Ort am Meer und gleichnamiges Hörspiel zieht den Hörer hinein in ein akustisches Zwischenreich.

Unheimliche Sphären diffuser Gewalt

Was real ist, was erfunden, was vergangen oder gegenwärtig ist in John Burnsides Langdicht und in der versiert-virtuosen Komposition von Klaus Buhlert unsicher geworden. Sicher dagegen sind die Folgen dieser unheimlichen Sphäre diffuser Gewalt und existenzieller Verlorenheit: Die 15-jährige Carey ist vor einem Jahr ermordet worden. Der zu unrecht von allen verdächtigte Martin hat sich das Leben genommen. Seine Geisterstimme gliedert sich nun ein in den Stimmenchor der nicht minder isolierten Dorfbewohner. So entsteht ein genuiner, wenn auch nicht radikal neuer Hörspielkosmos, für den sich Burnside ja auch an einem historischen Vorbild orientiert hat.

"Als ich Coldhaven schrieb, wollte ich so etwas in der Art von „Unter dem Milchwald“ von Dylan Thomas machen. Also diese Dunkelheit und, dass eine ganze Gemeinschaft gezeigt wird. Nicht nur die tatsächlichen Mitglieder dieser Gemeinschaft, sondern auch die Stimmung des Ortes und die Toten und die, die noch Kommen werden. So eine Art Totalität des Ortes." John Burnside

Harte, schottische Stahlarbeiter-Welt

Die Welt als Ganzes, wo nicht allein rationale Perspektiven wirken und der Mensch mehr ist als Vernunft und Logik: das ist Burnsides Generalthema. Als Autor kleidet er es in krimiähnliche Plots, autobiographische Literatur oder Gedichte. Und verarbeitet dabei auch die eigene Erfahrung, nicht dazu zu gehören. Als Künstler fehl am Platz zu sein in der harten schottischen Stahlarbeiter-Welt, in der er in den 1960ern aufwuchs. Als an Schizophrenie Leidender heraus zu fallen, aus einer Welt der Normalen.

Mehr Raum für den Sound

Vor allem in seiner Lyrik verdichtet Burnside meisterhaft sinnliche Wahrnehmungen, so dass es fast zwingend war, sich irgendwann im akustischen Erzählen zu versuchen. "Coldhaven" ist nach "Der Baucan" und "Fügung" sein drittes Hörspiel, eine Gattung, die auch auf Sprache verzichten kann, so die Lehre aus der Zusammenarbeit mit Hörspielregisseur Klaus Buhlert, der auch übersetzt hat.

"Seine, man könnte fast sagen, Interventionen, transformieren den Text. Wenn er zum Beispiel etwas komponiert, dann können oft ganze Teile des Geschriebene einfach gestrichen werden, weil man sie nicht mehr braucht. Das ist das, was ich lerne, wenn ich für das Radio schreibe. Dem Klang und dem Sound mehr Raum zu geben. Und dadurch die Geschichte geschehen zu lassen, weniger sie zu erzählen. Wenn die Geschichte durch den Klang, durch die akustische Suggestion und durch Anspielungen „passiert“, dann ist das einfach besser, wie wenn jemand sagt „dann passierte das und dann passierte das." John Burnside über Klaus Buhlert

Verwirrung über den eigenen Standpunkt

Was in "Coldhaven" passiert, dreht sich nur vordergründig um einen Mord. Vielmehr interessiert Burnside, wie sich eine Gemeinschaft ihre eigene Realität formt und wie viele Opfer dafür gebracht werden. Jenseits allzu eindeutiger moralischer Bewertungen lotet Burnside aus, wie viel Halt, aber eben auch Gewalt in solchen Wirklichkeitsphantasien steckt. Eine universelle und zugleich äußerst aktuelle Versuchsanordnung, die allerdings formal die Grenzen des Mediums nie antastet. Laut Jury erzeugt "Coldhaven“ mit der Verwirrung des Zuhörers über den eigenen Standpunkt im Gemenge aus Ahnungen und Andeutungen „eine Parabel auf die Wirkungsweisen des Gerüchts“.

Verlust des Geschichtsbewusstseins

In Zeiten des Postfaktischen und der historische Amnesie muss diese Parabel, will sie nicht allzu bekömmlich bleiben, auch als politischer Kommentar gelesen werden. Denn für die Erfahrung, welchen Gefahren sich eine Gesellschaft aussetzt, die dem Gerücht oder dem augenblicklichen Impuls mehr vertraut als rationaler Argumentation und historischem Bewusstsein, müssen wir uns heute ja nicht erst nach Coldhaven aufmachen:

"Was so tragisch ist, im Vereinigten Königreich, aber auch in den USA, das ist der Verlust an Geschichtsbewusstsein. In meinem letzten Roman ging es vor allem darum. Was passiert, wenn ein Volk seine Geschichte komplett vergisst. Das ist wirklich problematisch, weil dann alles nur noch auf Unvernunft, Vermutungen und Mythologie gründet." John Burnside