In Brüssel haben sich die Gewichte deutlich verschoben: In ihrer ersten Amtszeit als EU-Kommissionspräsidentin hat Ursula von der Leyen den Klimaschutz zum Hauptanliegen gemacht. Die von der Kommission vorgeschlagenen Gesetze übertragen die Anforderungen der Pariser Klimavereinbarung von 2015 in konkrete Vorgaben. Der europäische "Green Deal" soll den Kontinent bis zur Mitte des Jahrhunderts klimaneutral machen. Von der Leyen sprach in diesem Zusammenhang von Europas Mondlandung.
Für die Industrie, die zugleich mit den Folgen der Corona-Pandemie und internationalen Wettbewerbern zu kämpfen hat, bedeuten die EU-Klimagesetze enorme Belastungen. Deshalb und unter dem Druck ihrer eigenen christdemokratischen EVP-Fraktion im EU-Parlament hat von der Leyen den Arbeitsschwerpunkt für ihr zweites Mandat verändert.
Interessen der Wirtschaft stärker im Blick
Jetzt ist das Ziel der Kommission nach Angaben ihrer Chefin, beim nachhaltigen Wandel Europas beweglicher zu sein und Bevölkerung und Unternehmen auf dem Weg besser zu begleiten. Dabei stützt sich die Behörde auf zwei Berichte – die Vorschläge des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Enrico Letta zur Zukunft des EU-Binnenmarktes und den Report von Mario Draghi, dem früheren Präsidenten der Europäischen Zentralbank.
Dieser Bericht zeichnet ein schonungsloses Bild der EU: zu viel Regulierung, zu wenig Innovationen und Investitionen in Forschung, Entwicklung und zukunftsweisende Technologien. Von der Leyen hat gleich nach ihrem Amtsantritt im vergangenen Dezember schnelle Maßnahmen angekündigt. Der "Wettbewerbskompass" ist eine davon. Er soll die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft zur übergreifenden Handlungsmaxime der EU machen und sicherstellen, dass Brüssels Maßnahmen tatsächlich in diesem Sinne wirken.
Schneller, schlanker, einfacher
So will die Kommission Genehmigungen schneller und einfacher machen und Maßnahmen zwischen europäischer und nationaler Ebene besser verzahnen, anstatt nebeneinander her und doppelt zu arbeiten. Unternehmen und Bürger sollen leichter auf EU-Förderungen zugreifen können. Wirtschaftskommissar Valdis Dombrovskis ist zugleich für "Umsetzung und Vereinfachung" zuständig.
Damit wird das Thema direkt am Tisch der Kommissarinnen und Kommissare platziert. Sie sollen regelmäßig Bedenken der Unternehmen anhören und mögliche Lösungen ermitteln. Die Kommission will Berichtspflichten für Unternehmen um ein Viertel reduzieren, für kleine und mittlere Unternehmen sogar um 35 Prozent. In einem ersten Schritt sollen durch ein sogenanntes Omnibus-Gesetz drei Gesetze verschlankt werden: die Lieferkettenrichtlinie, die Berichterstattung über nachhaltige Finanzen und die EU-Taxonomie, also das System zur Einstufung wirtschaftlicher Handlungen als nachhaltig. Ein neuer Rechtsrahmen soll grenzüberschreitende Geschäfte im EU-Binnenmarkt erleichtern.
"Mega-KI-Fabriken": EU will Innovationen fördern
Der Kommissionsvorschlag stellt fest, dass Europas Anteil an weltweiten Patenten etwa mit dem der USA und Chinas vergleichbar ist. Allerdings werde nur ein Drittel kommerziell genutzt. Brüssel verspricht eine neue Strategie für Start-ups und eine für Künstliche Intelligenz (KI) mit Supercomputern in "Mega-KI-Fabriken", wo Firmen ihre Modelle testen können. Nach Einschätzung der Kommission mangelt es in Europa eigentlich nicht an Kapital – trotzdem fließt ein Großteil davon in Firmen jenseits des Atlantik, weil die EU-Kapitalmarktunion seit Jahren nicht vorankommt. Auch das soll sich ändern. Das Fazit der Kommission: Europa verfüge über alle Voraussetzungen, um in der Weltwirtschaft von morgen wettbewerbsfähig zu sein. Aber es müsse seine Stärken ausspielen. Der Wettbewerbskompass soll dabei helfen.
Positive Reaktionen im EU-Parlament
Wie die vorgeschlagenen Maßnahmen finanziert werden sollen, lässt die Kommission offen. EZB-Chef Draghi beziffert den Umfang der notwendigen Investitionen auf bis zu 800 Milliarden Euro jährlich. Der wirtschaftspolitische Sprecher der christdemokratischen EVP-Fraktion im EU-Parlament, Markus Ferber, begrüßt den Vorstoß. Europas Wirtschaft wieder fit zu machen, müsse das zentrale Ziel der nächsten fünf Jahre sein, so Ferber. Allerdings lasse sich Wettbewerbsfähigkeit nicht verordnen, die Politik könne nur Rahmenbedingungen setzen. Deshalb sei es wichtig, dass die vielen wohlklingenden Maßnahmen nun auch tatsächlich kommen und am Ende wirklich einen Mehrwert in der Praxis liefern. Ähnlich äußerte sich der Sprecher der Europa-SPD, René Repasi, im Handelsblatt: Die Vereinfachung der Regeln müsse in der Realität spürbar werden und dürfe nicht einzig und allein auf dem Papier bestehen. Viele Vorschriften müssten einer Prüfung unterzogen werden, so Repasi.
Im Video: Neue EU-Kommission bestätigt
Jeder der 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union darf einen Kommissar nach Brüssel schicken.
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