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Erstbegehungs-Jubiläum 100 Jahre Piz Badile Nordkante

Mit der Nordkante am Piz Badile feiert eine der großen Kletterrouten des Alpenraumes in diesem Sommer ihr Erstbegehungs-Jubiläum. Eröffnet wurde die Linie am 4. August 1923 - ein alpinistischer Kletter-Meilenstein.

Von: Kilian Neuwert

Stand: 04.08.2023

100 Jahre Piz Badile Nordkante | Bild: BR; Kilian Neuwert

Simon kommt als Nachsteiger an den Stand. Auf einem breiten Band steht es sich gut. Sofort geht sein Blick nach oben zu einer der markantesten Seillängen der Nordkante am Piz Badile, die sich auch aus der Ferne mit bloßem Auge ausmachen lässt. Über ihm reflektiert eine geneigte Platte das Sonnenlicht, viele Meter breit, durchzogen von unzähligen Rissen. Es ist die Zürcherplatte, benannt nach einem der Erstbegeher der Kante. Alfred Zürcher gelang die Erstbegehung mit Führer Walter Risch am 4. August 1923, also vor einhundert Jahren. „Unvorstellbar“ ist die Leistung für Simon. „Verrückt die Jungs“, entfährt es ihm.

Die Leistung von damals nötigt auch heutigen Begehern Respekt ab. Zürcher und Risch eröffneten eine der Linien, die zurecht als eine der großartigsten Klettereien im Alpenraum gilt. In zwölf Stunden fanden sie den Weg hinauf auf den 3.305 Meter hohen Gipfel an der schweizerisch-italienischen Grenze. Ihre Route galt nach der Erstbegehung im August 1923 einige Jahre lang als schwerste Kletterei des Alpenraumes, bis sie dann wiederholt wurde.

Seilschaft auf der Zücherplatte. Sie trägt den Namen Alfred Zürchers, eines der Erstbegeher der Kante

Heute wird die Route mit dem fünften Schwierigkeitsgrad bewertet. Gefordert ist der aber nur an Einzelstellen. An vielen Standplätzen stecken Bohrhaken. Einzelne sind auch in einigen Seillängen zu finden. All das macht die Tour einmalig, erläutert Gebietskenner Marcel Schenk: „Es gibt im Alpenraum keine vergleichbar lange Kante in moderater Schwierigkeit. Die hat zwei etwas schwierigere Stellen und sonst klettert man exponiert im super Fels im dritten oder vierten Grad.“ Die Kante sei somit für viele ein realistisches Ziel, sagt Schenk. Der Bergführer hat sich mit schwersten - ja extremen Erstbegehungen am winterlichen Piz Badile einen Namen gemacht. Die Lust am Kantenklettern habe er dabei nicht verloren, sagt er, jedes Mal freue er sich. Stabiles Wetter ist allerdings eine zwingende Voraussetzung für die Tour. Unterschätzen sollte man sie trotz der moderaten Schwierigkeiten aufgrund ihrer Länge nicht. Hier sind eigenständige Alpinkletterer gefordert. Auf weiten Strecken ist selbst für die Absicherung zu sorgen.  

Stützpunkt für die Nordkanten-Aspiranten ist die Sasc Furä-Hütte auf 1.904 Metern. Früh in der Saison geht es hier noch ruhig, aber erwartungsfroh zu, betont Wirtin Daniela Rotta. Ihr Publikum ist international. Neben den Schweizern zieht es Deutsche, Italiener, Engländer, Polen und Bergsteiger aus vielen weiteren Ländern ins Bergell. Der Piz Badile ist ein Magnet. Von der Hüttenterrasse aus sticht seine Nordkante direkt und messerscharf ins Auge. Daniela Rotta serviert einem Gast ein Bier, dann schweift auch ihr Blick hinauf. Sie erinnert sich an eine eigene Begehung der Kante. „Traumhaft“ sei das gewesen.

Zu erreichen ist die von Daniela Rotta geführte Sasc Furä-Hütte heute allerdings deutlich schwerer als früher. Rund fünf bis sechs Stunden Gehzeit sind einzuplanen für einen schönen, aber langen Steig. Der alte Weg, der bequem in etwa eineinhalb Stunden von einem Parkplatz im Bondascatal hinaufführte, ist gesperrt. Seit dem Bergsturz am nahen Piz Cengalo vor sechs Jahren liegt er in einer Sperrzone der Behörden. Dem Vernehmen nach wird der alte Weg gelegentlich dennoch von solchen Seilschaften genutzt, die ihn kennen und wiederfinden. Denn die Natur arbeitet längst daran, sich alles zurückzuholen. Gras und Gestrüpp überwuchern den Pfad, teils wurde er weggespült.

Unter Umständen ist Eisausrüstung nötig, wenn man zu Fuß in die Schweiz zurückkehrt. Die Verhältnisse hängen von der Jahreszeit ab

Neben dem Zustieg durch die wilde Gebirgslandschaft des Bergells, macht auch der Abstieg vom Piz Badile die Nordkante zu einer großartigen Unternehmung. Vom Gipfel herab führt der Weg nach Italien. Hier warten leichte Kletterpassagen, die sich auch durch Abseilen umgehen lassen. Die Stände dafür sind eingerichtet. Die Nacht kann man auf der nahen Gianetti-Hütte verbringen. Von dort aus steigen viele Begeher weiter ins Tal ab und lassen sich von einem Taxi zurück in die Schweiz bringen. Wer aber zu Fuß geht, darf eine einsame und großartige Landschaft genießen. Je nach Jahreszeit können für die Übergänge Pickel und Steigeisen erforderlich sein.


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