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Spurensuche Die Flucht von Wilhelm Hoegner übers Karwendel

Am 11. Juli 1933, also vor genau 90 Jahren, ist der spätere bayerische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner mit einem Bergführer vor den Nazis über das Karwendel nach Tirol geflohen. Auf einer halsbrecherischen Route.

Von: Georg Bayerle

Stand: 15.07.2023 | Archiv

Die Flucht von Wilhelm Hoegner | Bild: BR

In den Schluchten des Karwendel

Fast auf den Tag genau vor 90 Jahren machen wir uns auf auf einem stillen Steig über Mittenwald. Ein Fahrzeug hatte Wilhelm Hoegner, einen der prominentesten Sozialdemokraten und Verteidiger der Republik, den Genossen Journalisten Franz Blum und den Bergführer Hans Fischer an der Husselmühle abgeladen. Jetzt schlichen sie den Berg hinauf. Christian Fischer ist der Enkel des damaligen Bergführers. Er hat den Großvater Hans Fischer noch erlebt, ist mit ihm in die Berge gegangen, auf erste Wanderungen bei Benediktbeuren. Er muss ein guter Geschichtenerzähler gewesen sein, denn Opa Hans hat Christian mit seinen Erzählungen in den Bann gezogen. Am 11. Juli 1933 sollte er den beiden ihm Anvertrauten das Leben retten. Der Knackpunkt des Unternehmens ist die schier unüberwindliche Felsmauer des Karwendels.

Die Nazis auf den Fersen

Ludwig Hoegner ist fasziniert und nachdenklich auf unserer Spurensuche. Er ist der Urenkel des späteren bayerischen Ministerpräsidenten und Urhebers der Bayerischen Verfassung. Für Wilhelm Hoegner war die Flucht eine Niederlage, denn er wollte die Nazis im eigenen Land bekämpfen. Aber die braunen Schergen machten Monate nach der Machtergreifung kurzen Prozess mit der demokratischen Opposition. Das hatte auch die Familie des Bergführers Hans Fischer bereits zu spüren bekommen, erinnert sich Christian, der Enkel: Sein Großvater war Bergführer bei den Naturfreunden, die als gewerkschaftsnah und sozialdemokratisch galten, anders als der damals deutschnationale und antisemitische Alpenverein. Der Vater des Großvaters war als Gewerkschaftssekretär bereits im KZ.

SA auf der Hochlandhütte

Die exakte Fluchtroute ist nicht überliefert. Wie Christian Fischer und Ludwig Hoegner heute, war der damals 45-jährige Wilhelm Hoegner ein Gelegenheitswanderer, der jetzt über sich hinauswachsen musste. Sie mussten die imposante Felsmauer überqueren, über die heute noch die Grenze verläuft. Sie schlichen oberhalb der Hochlandhütte vorbei, auf der SA-Posten stationiert waren. Die Fluchtroute querte mehrere Schuttkare und muss irgendwo im Bereich von Tiefkarspitze und Wörner auf die andere Seite geführt haben. Aber offizielle Wege gibt es hier nicht, nur schwierige alpine Steige, auf denen man klettern muss. Zu gefährlich für Christian und Ludwig. Nach 1100 Höhenmetern stehen wir auf dem Wörnersattel.

Schwierige Flucht

Der Bärenalplsattel

Von hier verläuft der einzige markierte Übergang: um das gesamte Felsmassiv des Wörner herum und dann hinüber ins Karwendeltal nach Tirol: der Gjaidsteig. Vor dem Bärenalpl liegt die Schlüsselstelle: ein schmales Felsband, heute stellenweise mit Drahtseilen gesichert. Aber Christian ist nicht schwindelfrei. Es könnte die Fluchtroute gewesen sein. Für uns ist hier Schluss. Auch wenn wir damit nicht alle Fragen klären konnten: Hans Fischer, der Bergführer, hat Ludwigs Urgroßvater Wilhelm Hoegner damals das Leben gerettet. Noch während die Nazis ihren verheerenden Krieg führten, arbeitete Wilhelm Hoegner im Exil die künftige Verfassung aus mit so berühmten sozialen und demokratischen Inhalten wie dem Recht auf Ausbildung, Eigentum verpflichtet und natürlich dem „Schwammerlparagrafen“ Artikel 141 der Bayerischen Verfassung, der das freie Betretungsrecht der Natur festschreibt. Es ist historisch nicht belegt, aber es könnte sein, dass der Weg in die Freiheit über die Berge auch ein Grund dafür war, dass Wilhelm Hoegner das freie Betretungsrecht der Natur zum Verfassungsgrundsatz machte. Es ist nur eine der bis heute wirksamen Folgen dieser abenteuerlichen Flucht, die am 12.Juli 1933 nachts um 3 Uhr in Scharnitz glücklich endete.


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