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BR-Dokumentation Unbekannte Agatha Christie

Im Herbst 1928 bestieg Agatha Christie in London den Orient Express, um alleine nach Bagdad zu reisen. Der Entschluss zu dieser Reise war sehr spontan. Die Entscheidung in den Nahen Osten zu fahren, sollte den Rest ihres Lebens bestimmen. Basierend auf erstmals veröffentlichten Aufnahmen aus dem Privatarchiv der Nachkommen Christies zeichnet die Dokumentation "Agatha Christie und der Orient" die Anfänge und lebenslange Liebe der Schriftstellerin zum Orient nach.

Von: Sabine Scharnagl, Auslands-Kulturkorrespondentin

Stand: 04.01.2022

Palmyra, Syrien 2021 | Bild: BR

"Schon immer hatte ich einmal mit dem Orient-Express fahren wollen. Auf meinen Reisen nach Frankreich oder Spanien oder Italien hatte der Orient-Express oft in Calais gestanden, und ich wäre nur allzu gerne eingestiegen."

Agatha Christie, Autobiographie

Agatha Christie mit Fotoapparat in Nimrud, Irak1950er-Jahre

Zu diesem Zeitpunkt war Agatha Christie bereits eine erfolgreiche und bekannte Krimi-Autorin. Eine gescheiterte Ehe lag hinter ihr. Es war an der Zeit, sich selbst neu zu finden und zu erfinden. Die Entscheidung in den Nahen Osten zu fahren, sollte den Rest ihres Lebens bestimmen. Zum ersten Mal sah Agatha Christie die britischen Ausgrabungen in Mesopotamien (heute Syrien und Irak) und freundete sich mit dem großen Archäologen Leonard Woolley und seiner Frau Katharine an. Als sie im darauffolgendem Jahr zurückkam, lernte sie auch den jungen Archäologen Max Mallowan kennen. Noch vor Ablauf eines Jahres waren die beiden verheiratet. Es begann eine literarisch-archäologische Partnerschaft, die nicht glücklicher hätte sein können.

Von 1949 bis 1963 führte Max Mallowan Ausgrabungen in Nimrud im heutigen Irak, 30 Kilometer entfernt von Mosul, durch. Auch hier war Agatha immer an seiner Seite, genoss die Freiheit und den Mannschaftsgeist unter den Archäologen. Ein Leben so ganz anders als das Leben, das die damals schon weltberühmte Schriftstellerin in England führte.

Jahrzehnte dokumentiert

"Agatha Christie und der Orient!"

BR Fernsehen am 5. Januar 2022 um 22.45 Uhr
Eine Dokumentation von Dr. Sabine Scharnagl
Redaktion: Dr. Bettina Hausler-Thomas

In ihren Büchern und privaten Briefen, die für diesen Film erstmals von Agatha Christies Familie zur Verfügung gestellt wurden, zeichnet sie ein überreiches Bild von ihren Eindrücken und Erfahrungen im Nahen Osten, Erfahrungen, die die Jahrzehnte von den dreißiger bis in die sechziger Jahre umfassen. Ergänzt werden die bislang unbekannten schriftlichen Zeugnisse von vielen Fotos und Filmaufnahmen, die die begeisterte Fotografin und Filmerin Agatha Christie im Irak und in Syrien selbst gemacht hat. Auch das ein Schatz, der bislang weder gesichtet noch geborgen war.

Ihre glückliche Zeit als die Frau eines Archäologen beschrieb Agatha Christie in dem Buch "Come tell me how you live", das im gebeutelten London des Zweiten Weltkriegs entstand - wie sie selbst sagt als eine Erinnerung an die glückliche und friedliche Welt im Nahen Osten zwischen den Kriegen.

Dreh an gefährlichen Orten

Agatha Christie bei Grabung in Chagar Basar, Syrien, 1930er-Jahre

Für diese Dokumentation haben wir im Nahen Osten gedreht, an den Ausgrabungsorten, an denen sie und ihr Mann die meiste Zeit verbrachten, in Tell Arpachiyah (Irak), Tell Brak und in Nimrud (Irak), sowie in ihrer Heimat England. Es ist ein beeindruckendes Dokument entstanden in dem wir nicht nur die unbekannte Agatha Christie zeigen, sondern auch die Kulturstätten besuchen, die von den Zerstörungen durch den IS und Gefechten in diesen Regionen nicht verschont blieben. Auch jetzt sind Dreharbeiten in diesen Regionen gefährlich und dann kam auch noch Corona dazu. Dass dieser Film in Pandemie-Zeiten entstehen konnten, war nur dank des unermüdlichen Einsatzes der Produktionsfirma Bildmanufaktur möglich.

Über die Arbeit an diesem Filmprojekt hat der BR.de mit Frau Dr. Scharnagl ein Interview geführt:

BR.de: Frau Scharnagl, gibt es denn noch irgendetwas Neues über Agatha Christie zu erzählen? Wissen wir nicht schon alles über sie?

Dr. Sabine Scharnagl: Kaum jemand weiß, dass Agatha Christie ihren zweiten Mann, den Archäologen Max Mallowan, jahrzehntelang auf seinen Ausgrabungen in Syrien und im Irak begleitet hat. Und sie war nicht nur als Beobachterin dabei, sie half bei den Ausgrabungen, setzte in mühsamer Kleinarbeit Tongefäße zusammen und war für das Fotografieren der gefundenen Objekte zuständig. Und sie hat dieses harte Leben geliebt. Darum geht es in meinem Film.

Warum hat es so lange gedauert, bis jemand auf dieses Thema kam? Liegt es nicht auf der Hand?

Ich glaube, dass das Thema auch vorher schon Leute interessiert hat. Nicht zuletzt gab es in den neunziger Jahren eine große Ausstellung darüber. Aber mir ist es zum ersten Mal gelungen, die Unterstützung von Agatha Christies Enkel Mathew Prichard und ihres Neffen John Mallowan zu erlangen.  Sie erlaubten mir, auf Hunderte von privaten Fotos und Filmaufnahmen zurückzugreifen, die Agatha Christie selbst zwischen den frühen dreißiger und den späten fünfziger Jahren bei den Ausgrabungen gemacht hat. Ich benutze in diesem Film ihre eigenen Bilder, um ihre eigenen Worte zu illustrieren.

"Tod auf dem Nil" und "Mord im Orient Express" sind zwei ihrer bekanntesten Bücher, darin geht es ja auch um den Mittleren Osten.

Agatha Christie mit ihrem zweiten Mann Max Mallowan in England, 1950er-Jahre

Das stimmt, aber auch die Archäologie kommt in ihren Büchern vor. In dem gleichermaßen spannenden Buch "Mord in Mesopotamien" findet der Mord bei einer Ausgrabung im Irak statt. Und natürlich gibt es noch ihr wunderbares autobiographisches Buch "Erinnerung an glückliche Tage", das sie während des zweiten Weltkriegs in London schrieb und in dem sie die Zeit in Syrien beschreibt. Und zwar, was ich besonders anrührend finde, um sich im dunklen und krieg-zerrissenen London an die friedliche und glückliche Zeit in Syrien zu erinnern. Wie die Zeiten sich geändert haben…

Also handelt der Film nur in der Vergangenheit?

Ganz und gar nicht. Alle Orte, an denen Agatha Christie und ihr Mann ausgegraben haben, haben wir für diesen Film auch besucht und dort gedreht, was unter den gegebenen Umständen in Syrien und im Irak sehr kompliziert war. Der Kontrast zwischen der friedlichen Welt von damals, die Agatha Christie beschreibt, und der Gegenwart, voll Krieg und Zerstörung, war wirklich bestürzend. Agatha Christie hat den Nahen Osten sehr geliebt und es hätte ihr das Herz gebrochen zu sehen, in welchem Chaos dieser Teil der Erde heute versunken ist.

Haben Sie schon Reaktionen auf Ihren Film?

Am meisten gefreut hat es mich, dass Agatha Christies Urenkel, der sie nur noch als kleines Kind kannte, sagte, dass er seine Uroma jetzt mit ganz anderen Augen sieht. Genau das war meine Absicht! Agatha Christie war eben nicht nur die elegante Dame, die in idyllischer englischer Umgebung bei einer Tasse Tee ihre Romane schrieb. Sie war eine Frau, die sich wirklich etwas getraut hat in ihrem Leben. Und die mit großer und offener Neugier auf alles, auch auf andere Kulturen zuging. Davon können wir alle etwas lernen.


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