Bayern 2 - Zündfunk


14

Das Corona-Tagebuch Die soziale Distanzierung ist fast schlimmer als Raketenalarm und Terror

Die Menschen in Israel sind Ausnahmesituationen gewohnt. Aber Raketenalarm, Krieg, Terror, das alles scheint einfacher zu ertragen als die sogenannte soziale Distanzierung, schreibt die Journalistin und Historikerin Andrea Livnat.

Von: Andrea Livnat

Stand: 18.04.2020 18:15 Uhr | Archiv

Andrea Livnat, Herausgeberin von haGalil.com | Bild: Privat

Ich bin neidisch auf Euch! Ihr dürft Euch zwar auf keine Parkbank setzen und picknicken, aber wenigstens dürft Ihr Spazierengehen, Fahrrad fahren. Das ist schon was. Wir dürfen das zwar auch, aber nur im Umkreis von 100 Metern von Zuhause. Hier in Israel sind die Corona-Maßnahmen noch ein wenig strenger als in Bayern. In den ersten Tagen hatte es schon etwas Surreales, ein wenig wie in „Täglich grüßt das Murmeltier“. Fast jeden Abend hat Netanyahu zur besten Sendezeit - also während der Abendnachrichten - zur Nation gesprochen und dabei demonstriert, wie ein Taschentuch zu benutzen ist und an die Einsicht der Bürger appelliert. Nachdem das nicht geholfen hat, hat er immer striktere Maßnahmen verkündet, bis es schließlich zum Pessachfest vergangene Woche eine komplette Ausgangssperre gab.

Bitter, denn Pessach, das ist ein Fest, das man gemeinsam feiern soll, das ist die Quintessenz des Festes, zusammen an den Auszug aus Ägypten, aus der Sklaverei in die Freiheit zu gedenken. Gefeiert haben trotzdem viele gemeinsam, trotz Ausgangssperre. Die sozialen Medien waren schon am gleichen Abend voller Filme von gemeinsam singenden Nachbarn, die über die Balkone hinweg dem traditionellen „ma nishtana haleila hase“, „Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten?“, eine ganz neue Bedeutung gegeben haben.

Corona bringt die Gräben der israelischen Gesellschaft zu Tage

Aber natürlich wächst auch hier die Ungeduld. Die Menschen sind hier Ausnahmesituationen gewohnt, Raketenalarm, Krieg, Terror, das alles scheint einfacher zu ertragen als die sogenannte soziale Distanzierung. Dazu kommt, dass die israelische Wirtschaft, bisher zuverlässig und trotz wiederkehrender Kriege stark und unerschütterlich, gerade den Bach heruntergeht. Die Arbeitslosenquote ist auf 26 Prozent gestiegen, lange kann es so nicht mehr gehen, das ist klar.

Außerdem bringt Corona die Gräben der israelischen Gesellschaft deutlich zu Tage. Die meisten Brennpunkte mit hohen Infektionsraten sind Städte oder Viertel mit überwiegend ultraorthodoxen Bewohnern, darunter Bnei Brak, Elad und Beit Shemesh. In Jerusalem wurden vier Viertel abgeriegelt, auch sie alle mit überwiegend ultraorthodoxer Bevölkerung. Viele säkulare Israelis sehen die streng Religiösen in der Verantwortung dafür, dass die Infektionskurve nicht abflacht. Tatsächlich hat es lange gedauert bis die Dringlichkeit der Lage auch in Bnei Brak etc. angekommen ist.

Ohne Internet und ohne Nachrichtensendungen

Aber die überwiegende Mehrheit der Ultraorthodoxen hält sich mittlerweile strikt an die Vorgaben. Auch wenn diese sicher sehr viel schwieriger umzusetzen sind, in einer kleinen Wohnung mit vielen Kindern, in engen Gassen und mit begrenzten Einkaufsmöglichkeiten. Ohne Internet und ohne Nachrichtensendungen sind die Realitäten für streng religiöse Familien ganz andere.

Hier im säkularen Tel Aviv, in unserem Viertel, lässt es sich gut aushalten. Den Park ganz in der Nähe darf man zwar nicht aufsuchen, aber die Kinder haben auch so in den Straßen genug Frei- und Grünflächen. Meine drei Kinder, sie sind 14, 11 und sechs Jahre alt, haben gute und weniger gute Tage, im Großen kommen sie aber erstaunlich gut mit der Situation klar. Das liegt auch daran, dass das digitale Lernen hier deutlich weniger anspruchsvoll ist als in Bayern. Aber natürlich ist ihnen oft langweilig und um die Zeit zu überbrücken, quäle ich sie mit Spielen von früher, wie Gummihüpfen und Seilspringen.

Das Gefühl von einem einzigen langen Shabbat

In der Nachbarschaft hat sich ein Gefühl von einem einzigen langen Shabbat breit gemacht. Alles ist viel stiller, friedlicher, die Nachbarn stehen nachmittags oft zusammen draußen (in gebührendem Abstand natürlich und mit Masken, wir haben nämlich auch Maskenpflicht), haben Zeit für einen Plausch. Vielleicht gibt es ja auch ein paar Dinge, die sich für die Zeit „danach“ erhalten.

Dieses „Danach“, das wir alle so herbeisehnen. Zunächst aber gibt es zum Ende von Pessach wieder eine komplette Ausgangssperre. Unabhängigkeitstag und Ramadan sind auch nicht weit. Von Normalität kann wohl auch auf längere Sicht noch keine Rede sein.

Andrea Livnat, 1974 in München geboren und aufgewachsen, ist Historikerin und Herausgeberin des Internetportals haGalil.com. Sie lebt in Tel Aviv.


14