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Psychologie der Dämonisierung

Von: Simon Demmelhuber / Sendung: Michael Reitz

Stand: 03.04.2017 | Archiv

PsychologieMS, RS, Gy

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst? Von wegen! Schlagt den Feind, wo ihr trefft! Feindbilder haben Dauerkonjunktur. Und ein immens destruktives Potenzial: Sie schmieden Hassgemeinschaften und liefern die Lizenz zum kollektiven Dreinschlagen.

Die Suche nach dem Sündenbock

In der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 brennt der Reichstag in Berlin. Der Schuldige ist schnell gefunden: Marinus van der Lubbe, ein arbeitsloser niederländischer Kommunist, dessen Täterschaft bis heute umstritten ist. Für das Reichskabinett unter Adolf Hitler ist die Sache jedoch klar: Der Feind hat seines wahres Gesicht gezeigt, die Brandstiftung ist das Feuerzeichen der unmittelbar bevorstehenden kommunistischen Revolution, eine Kampfansage gegen die bestehende Rechtsordnung und ihre Institutionen.

Gefahr im Verzug

Jetzt gilt es rasch, entschlossen und erbarmungslos zu handeln. Noch am 28. Februar tritt die Notverordnung "Zum Schutz von Volk und Staat" in Kraft. Erlassen zur "Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte", gibt sie den Nationalsozialisten freie Hand, den Erzfeind auszuschalten. Die Grundrechte werden eingeschränkt, das Post- und Fernmeldegeheimnis aufgehoben, die Gleichschaltung der Länder vorbereitet, abertausende Regimegegner verfolgt, misshandelt, inhaftiert und in Konzentrationslager verschleppt. Knapp einen Monat später, am 24. März 1933, ebnet das "Ermächtigungsgesetz" endgültig den Weg in die NS-Diktatur.

Von der "Notwehrgemeinschaft" zum Hasskollektiv

Hitlers legaler Staatsstreich, dem mit Ausnahme der Sozialdemokraten alle bürgerlichen, konfessionellen und liberalen Parteien zustimmen, ist ein Lehrstück für das Wesen, die Mechanismen, die Wirkungen und das destruktive Potenzial von Feindbildern par excellence: Das kollektive Schreckgespenst einer kommunistischen Verschwörung gegen die christlich-abendländische Werteordnung, die Furcht vor dem drohenden bolschewistischen Umsturz, hat die konservativen Kräfte der Weimarer Republik seit Kriegsende umgetrieben. Der Reichstagsbrand bietet den Nationalsozialisten nun eine willkommene Gelegenheit, diese diffusen Ängste zu bündeln, zu mobilisieren und für ihre Zwecke einzusetzen.

Feindbilder als Lizenz zu entfesselter Barbarei

Wie verblendend, verheerend und verbrecherisch die gezielte Instrumentalisierung von Feindbildern sein kann, zeigt auf erschreckende Weise auch die Vernichtung des europäischen Judentums. Millionen von Menschen werden gezielt verunglimpft, erniedrigt, geschmäht, gedemütigt und zugleich als "rassisch minderwertige Schädlinge und Volksfeinde" verteufelt. Die Juden sind an allem schuld: am verlorenen Krieg, an der Not des deutschen Volkes, an Arbeitslosigkeit und Massenarmut, am Verfall der Kultur, an den Missständen der Politik, an wirtschaftlichen Fehlentwicklungen, an der internationalen Finanzkrise. Das in unzähligen Pamphleten, Reden und Filmen, auf unzähligen Plakaten und Schmähangriffen immer wieder bewusst propagierte Feindbild des "ungesunden Blutverderbers", der den "gesunden deutschen Volkskörper" zu infizieren und auszulöschen droht, liefert dem NS-Terror die Legitimation zu einer radikalen Gefahrenabwehr und entfesselten Brutalität unvorstellbaren Ausmaßes.

Wehret den Anfängen!

Die Ausmerzung der Kommunisten und das barbarische Morden in Ausschwitz, Bergen-Belsen, Sobibor, Majdanek, Treblinka, Belzec und anderen Vernichtungslagern sind sicherlich Extrembeispiele dafür, wie Feindbilder konstruiert und als Freibrief zum Losschlagen gegen vermeintliche Bedrohungen missbraucht werden. Aber sie mahnen im Großen, auch im Kleinen genau hinzusehen. Denn der historische Einzelfall gehorcht denselben Bedingungen, die unsere alltäglichen Feindbilder im Stadion, am Arbeitsplatz, in der Schule, in der Politik, in der öffentlichen Debatte oder ganz einfach auf der Straße brandgefährlich machen.

Die Dämonisierung des Anderen

Der Stoff, aus dem Feindbilder gemacht sind, ist immer derselbe:

  • Feindbilder sind stets soziale Konstrukte. Sie spiegeln nicht die Realität, sondern kollektive Vorstellungen über die Realität und deren vermeintlich bedingende Faktoren.
  • Feindbilder wurzeln nicht in einer rationalen Analyse der Wirklichkeit, sondern in einem verworrenen Gemenge negativer Gefühle, in denen sich Menschen als bedroht, minderwertig, zurückgesetzt, benachteiligt, verfolgt, gedemütigt, erniedrigt, chancenlos und ausgegrenzt empfinden.
  • Im Feindbild werden die subjektiven, häufig diffusen Wahrnehmungen zur gemeinsamen Wahrnehmung einer Gruppe verdichtet und einem "Schuldigen" zugeordnet. Sie ziehen ihre Schlagkraft aus der Zuspitzung einfachster Erklärungsmodelle. Dabei härten Stereotypen, Klischees und Vorurteile zu "allgemeinen Wahrheiten" aus, deren kollektive Akzeptanz die Gruppenzugehörigkeit ihrer Träger begründet und starke Bindungsenergien erzeugt.
  • Feindbilder mobilisieren Verteidigungs- und Notwehrreflexe. Die im Feindbild heraufbeschworene Bedrohung rechtfertigt gewaltsame Abwehrmaßnahmen und liefert so die Lizenz zum Dampfablassen, Durchgreifen und Dreinschlagen.
  • Das Feindbild hebt die subjektiv empfundene Schwäche des Einzelnen in der Gruppe auf und überträgt die Verantwortung für die eigene Misere, das eigene Misslingen, auf den gemeinsam identifizierten Verursacher.
  • Feindbilder sind psychische Projektionsmaschinen. Sie bieten die Möglichkeit, latenten Selbsthass, Versagensängste und das Empfinden subjektiven Ungenügens auf einen Gegner auszulagern und stellvertretend am "Sündenbock" zu bekämpfen.

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