Bayern 2 - radioTexte


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Axel Milberg liest Stefan Zweigs "Die unsichtbare Sammlung"

Wie nahe Wahn und Wahrheit beieinander liegen können erzählt der große Europäer Stefan Zweig in seiner Novelle „Die unsichtbare Sammlung“, gelesen von Axel Milberg. Im Anschluss: nemo - das literarische Ratespiel

Von: Kirsten Böttcher

Stand: 25.09.2020 | Archiv

Schriftsteller Stefan Zweig | Bild: picture-alliance/dpa

"Ich glaube, Goethe hat es gesagt - : Sammler sind glückliche Menschen."

(Stefan Zweig, „Die unsichtbare Sammlung“)

Ob Goethe das wirklich gesagt hat, bleibt bis heute offen. Ebenso bleibt die These im Raum, ob sammelleidenschaftliche Menschen durch ihre fokussierte Konzentration und gleichzeitige Ausblendung von Umwelt und Realität von manch Unglück und Sorge verschont werden. Stefan Zweigs Novelle aus dem Jahr 1927 berichtet von solch einem „Fall“: Es ist die Zeit kurz nach der Hyperinflation in Deutschland. Ein Berliner Kunsthändler ist verzweifelt auf der Suche nach neuer Ware und besucht einen treuen Kunden, der über die Jahrzehnte eine einmalige Grafik-Sammlungen zusammengetragen haben muss. Doch als der Kunstexperte aus der Hauptstadt in der Provinz nahe Dresden ankommt und der Frau des Sammlers seine Aufwartung macht, erfährt er nicht nur, dass der Sammler erblindet ist. Es wird ihm dazu düsteres Familiengeheimnis offenbart, von dem der alte Sammler nichts wissen darf: Wegen der rasenden Inflation mussten sie und ihre Tochter Blatt für Blatt aus der Sammlung verkaufen, um irgendwie an Geld zu kommen. Also spielt der Berliner Kunsthändler großes Theater, als er in dessen Wohnzimmer sitzt und der blinde Sammler dem Experten mit stetig wachsendem Elan seine gar nicht mehr existierenden Grafiken von Dürer, Rembrandt oder Mantegna zeigt.

"Er sah es an, minutenlang, ohne doch wirklich zu sehen, aber er hielt ekstatisch das leere Blatt mit ausgespreizter Hand in Augenhöhe, sein ganzes Gesicht drückte magisch die angespannte Geste eines Schauenden aus. Und in seinen Augen, die starren mit ihren toten Sternen, kam mit einemmal - schuf dies der Reflex des Papiers oder ein Glanz von innen her? - eine spiegelnde Helligkeit, ein wissendes Licht."

(Stefan Zweig, Die unsichtbare Sammlung)

Die Wolke des gütigen Wahns

Beeindruckend zeichnet Stefan Zweig die rührende und zugleich erschreckende Sammelleidenschaft des Alten, der nicht sehen kann und nicht sehen will, was seit Jahren um ihn herum geschieht, dass seine Familie verarmt ist, dass Frau und Tochter voller Sorgen und Ängste leben. Fast stolz deklamiert der blinde Mann, er habe immer nur gespart für diese Blätter, "in 60 Jahren kein Bier, kein Wein kein Tabak, keine Reise, kein Theater, kein Buch“, nur gespart!

"Unvergesslich war mir der Anblick: dies frohe Gesicht des weißhaarigen Greises da oben im Fenster, hoch schwebend über all den mürrischen, gehetzten, geschäftigen Menschen der Straße, sanft aufgehoben aus unserer wirklichen Welt von der weißen Wolkes eines gütigen Wahns."

(Stefan Zweig, Die unsichtbare Sammlung)

Josef Hader als Stefan Zweig in "Vor der Morgenröte" (2016)

Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und lebte ab 1919 in Salzburg, bevor er 1938 nach England, später in die USA und schließlich 1941 nach Brasilien emigrierte. Mit seinen Erzählungen und historischen Darstellungen erreichte er weltweit in Millionenpublikum. Dazu inspirierte er in den letzten Jahren Filmemacher wie Wes Anderson oder Maria Schrader zu so erfolgreichen Produktionen wie "The Grand Budapest Hotel" oder "Vor der Morgenröte". Zuletzt vollendete Zweig seine Autobiographie "Die Welt von Gestern" und die "Schachnovelle". Am 23. Februar 1942 schied er zusammen mit seiner Frau "aus freiem Willen und mit klaren Sinnen" aus dem Leben.

"Die unsichtbare Sammlung. "

Eine Episode aus der deutschen Inflation

von Stefan Zweig

Lesung mit Axel Milberg

Im Anschluss: nemo - das literarische Ratespiel mit Elisabeth Tworek und Andreas Trojan und neuem Hörerrätsel für Sie!

Alles am 29. September in den radioTexten am Dienstag, kurz nach 21.00 Uhr auf Bayern2

Die Erzählung ist u.a. bei Fischer erschienen.

Unsere Lesungen können Sie immer und überall nachhören: auf dieser Seite im Stream, als Download im Podcast-Center des Bayerischen Rundfunks und überall, wo es Podcasts gibt.


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