Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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21. Januar 1817 Stendhal bekommt in Florenz das Stendhal-Syndrom

Noch heute reden wir vom Stendhal-Syndrom, wenn Touristen überschnappen - wegen zu viel Kunst. Für den französischen Dichter Stendhal wurde der Aufenthalt in Florenz beinahe zur Katastrophe. Autorin: Prisca Straub

Stand: 21.01.2021 | Archiv

21 Januar

Donnerstag, 21. Januar 2021

Autor(in): Prisca Straub

Sprecher(in): Caroline Ebner

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

Eine Reise nach Florenz muss nicht zwangsläufig in der Notaufnahme enden. In der Regel geht alles gut. Dennoch: Uffizien, Ponte Vecchio, Michelangelos David - die toskanische Kunstmetropole kann einen umhauen. - Brunelleschis Domkuppel, Botticellis Geburt der Venus - die Renaissance-Stadt ist voll von Sehenswürdigkeiten! Und von Reisenden, die sich zu viel zugemutet haben. Einige von ihnen geraten sogar merklich ins Taumeln. Erschöpft, dehydriert, mit steifen Nacken und verrenkten Hälsen.

Kollabieren durch Kunst

Und schlimmer noch: In der Notaufnahme im Zentrum der Stadt häufen sich bedrohliche Fälle: desorientierte, verwirrte Urlauber. "Reizüberflutung", konstatierte Graziella Magherini, seinerzeit Psychiaterin am Krankenhaus von Santa Maria Nuova, schon in den 1980ern. Zu viel Großartiges in zu kurzer Zeit. Kulturschock. Die seltsamen Krankheitsfälle lassen die Ärztin nicht mehr los. Sie kategorisiert: Schwindel, Herzrasen und Schweißausbrüche. Wahnhafte Symptome - bis hin zu Panikattacken und psychischem Zusammenbruch. - "Stendhal-Syndrom" nennt die Dottoressa das Florentiner Touristen-Leiden. Alleinreisende Frauen aus Nordeuropa scheinen besonders gefährdet zu sein.

Stendhal also. Auch der französische Schriftsteller ist auf einer Italienreise um ein Haar zusammengeklappt. Schwächeanfall. Bei einem Abstecher nach Florenz. Am 21. Januar 1817 notiert er nach dem Besuch in der Franziskanerkirche Santa Croce - Herzklopfen und verwirrende Gemütsaufwallung. Ausgelöst durch die allzu große Nähe zu den Grabmälern so vieler weltbewegender Genies - Galileo Galilei, Machiavelli, Michelangelo - "Was für Männer!" Dem Dichter schwinden die Sinne. Unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, stürzt Stendhal ins Freie.

An der frischen Luft klingt der Schwindel ab. Andere Patienten werden später weniger Glück haben. - Im nur wenige Schritte entfernten Ospedale di Santa Maria Nuova müssen übergeschnappte Kunstliebhaber durchaus auch stationär behandelt werden. Langzeitschäden sind glücklicherweise nicht zu erwarten. In schweren Krisen empfiehlt sich allerdings, Florenz sofort zu verlassen. Das Rückfallrisiko lauert an jeder Ecke.

Muskelstrotzende Pobacken

Einen Ort hat die Psychiaterin dabei besonders im Blick - die weltberühmte Piazza della Signoria mit der lasziven Statue des nackten Davids von Michelangelo. Die kolossale Marmorkopie sei brandgefährlich für überstrapazierte Nerven. Sechs Tonnen makellose Männlichkeit. Die sinnliche Hüfte, strotzende Muskeln, ein herausfordernder Blick. Wer in den Bann des lässigen Jünglings gerät, bei dem können die Sicherungen durchbrennen, so Dottoressa Graziella Magherini. Auslöser: sexuelle Frustration. Und - das Leiden geht einher mit der Lust zu zerstören. Einer, der den Anblick nicht mehr ertragen konnte, hat schon mal mit dem Hammer auf Davids linken Fuß eingedroschen und Marmorsplitter aus dem Zeh herausgeschlagen. Klarer Fall von David-Syndrom? Alleinreisende Männer aus Nordeuropa scheinen jedenfalls besonders gefährdet zu sein.


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