6. Juni 1962 Der Münchner Berliner Bär grüßt an der A9
Entlang bundesdeutscher Autobahnen wurden in der Nachkriegszeit Meilensteine mit dem Berliner Bären errichtet: Prominent auf dem Mittelstreifen sollte das Wappentier daran erinnern, dass West-Berlin ein Teil der Bundesrepublik war. So kam auch an die Autobahnauffahrt München-Freimann ein Bär der Tierbildhauerin Renée Sintenis. Autorin: Prisca Straub
06. Juni
Freitag, 06. Juni 2025
Autor(in): Prisca Straub
Sprecher(in): Caroline Ebner
Redaktion: Frank Halbach
"Mit Tieren durfte ich immer ich selber sein", sagt Renée Sintenis später. "Tiere fordern nichts!" Als Mädchen fährt sie im Puppenwagen einen Wurf Kaninchen spazieren, die Schulhefte verziert sie mit jungen Hunden und Pferden - und beschließt dann, Tierbildhauerin zu werden. Ein abseitiger Wunsch zur Jahrhundertwende: Tierplastik gilt als unseriös - und mit Hammer und Meißel zu arbeiten als unweiblich! An der Berliner Akademie der Künste sind Frauen sowieso nicht zugelassen. Renée Sintenis wählt also eine kunstgewerbliche Ausbildung. Zeichnet weibliche Akte und modelliert männliche Götter. - Tierdarstellungen sind kein eigenes Unterrichtsfach.
Die "kleinen Dinger" der Renée Sintenis
"Fräulein Sintenis" verzichtet auf einen Abschluss. Ebenso wie auf "Renate", ihren Vornamen. Als Renée steht und sitzt und liegt sie bald Modell. Für männliche Künstler, die selbst auf eine Chance warten. Doch - wie es wohl wäre, Tierbildhauerin zu sein? - Mitten im Ersten Weltkrieg entstehen erste kleine Preziosen - zunächst aus Gips, denn Bronze ist teuer: Springende, grasende, ruhende Fohlen mit überlangen Beinen und sanften Augen. Rehe, Esel und Gazellen. Ein privater Streichelzoo in mehreren Auflagen, der sich als ideales Geschenk entpuppt. Eine liegende Antilope für den bürgerlichen Kaminsims? Die "kleinen Dinger" der Sintenis findet man ganz entzückend. "Nippes" und "Vitrinen-Kunst"! Selbstverständlich! "Aber warum nicht?" - "Hübsch, dass Frauen so viel können." Das friedliche Grasen, das Anrührende und Springlebendige lenkt ab von den Nachrichten aus den Schützengräben. - Und ein kleiner springender Bock liegt so angenehm in der Handfläche.
Nach dem verlorenen Krieg setzt sich Renée Sintenis mit ihrer Kleinplastik endgültig durch. Die faszinierend androgyne Frau mit Kurzhaarschnitt, Anzugshose und Krawatte reitet mit Terrier durch den Berliner Tiergarten. Die Hauptstadt-Bohème reißt sich um ihre Menagerie. Sie wird an die Akademie der Künste berufen - als erste Frau im Fach Bildhauerei - und kurz darauf wieder ausgeschlossen. Der Trend der neuen Zeit: gestählte Reichsadler. Die leichtfüßigen Fohlen der Sintenis gelten jetzt als "undeutsch" und verzärtelt.
Bär als Meilenstein
Jahrzehnte später: Junge, auf den Hinterbeinen stehende Bären erscheinen an bundesdeutschen Autobahnen und recken freundlich ihre Tatzen in die Höhe. Eine ursprünglich nur wenige Zentimeter kleine Sintenis-Skulptur ist auf lebensechte Bärendimensionen gebracht und zum Meilenstein geworden. Als freundliche Botschafter verbinden die Tiere das damals geteilte Berlin mit West-Deutschland. Auch mit München. Seit dem 6. Juni 1962 grüßt das Bärenjunge auf dem Mittelstreifen der A9 an der Autobahneinfahrt München-Freimann von einem Granitsockel - so tapsig, als würde es gerade laufen lernen.
Und das Bärenjunge steht jedes Jahr neu im Rampenlicht: Die Berliner Filmfestspiele gießen den Sintenis-Bären als Trophäe. Graviert mit den Namen der Gewinner. Jetzt sogar in Silber und Gold.