Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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5. Juli 1816 Schiffbrüchige der Fregatte Méduse besteigen ein Floß

Es ist ein Horrorszenario: Menschen dicht gedrängt auf einem einsamen Floß mitten im weiten Meer, ohne Nahrung oder Wasser, warten sie auf Rettung. Die wenigen Fässer Wein auf dem Floß sind schnell leer, man fällt ergo übereinander her. Zugetragen hat sich das Ganze tatsächlich und sollte zum politischen Skandal werden. Autorin: Ulrike Rückert

Stand: 05.07.2022 | Archiv

05 Juli

Dienstag, 05. Juli 2022

Autor(in): Ulrike Rückert

Sprecher(in): Christian Baumann

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Susi Weichselbaumer

Schockiert standen die Besucher der Pariser Kunstausstellung 1819 vor einem monumentalen Gemälde: auf einer Leinwandfläche von fünfunddreißig Quadratmetern türmen sich Menschenleiber, Tote und Lebende ineinander verschlungen. Wer noch die Kraft hat, winkt verzweifelt einem Schiff zu, das, winzig klein, am Horizont zu sehen ist. "Was für ein grässliches Schauspiel, aber was für ein wundervolles Bild!", schrieb ein Rezensent.

Gruselig schön

Das Publikum erkannte in Théodore Géricaults Werk auch die Szene einer realen Schiffskatastrophe, die eben erst Europa erregt hatte: Im Juli 1816 war die Fregatte La Méduse auf der Arguin-Sandbank vor der Küste Westafrikas gestrandet. Sie sollte Beamte, Soldaten und Siedler in die französische Kolonie am Senegalfluss bringen.

Alle Versuche, das Schiff flottzumachen, scheiterten. Weil die Beiboote bei weitem nicht für alle der rund vierhundert Menschen an Bord reichten, ließ der Kapitän aus Masten und Planken ein Floß bauen. Am 5. Juli befahl er, das Schiff zu verlassen. Etwa hundertfünfzig Männer und eine Frau bestiegen das Floß. Sie mussten eng aneinandergedrängt stehen, und das Gefährt lag so tief im Wasser, dass es ihnen bis zur Hüfte reichte.

Toi toi toi

Die Boote sollten das Floß zur Küste schleppen, doch stattdessen kappte ein Offizier die Verbindungsleine. "Das Seil ist gerissen!", schrie jemand im Glauben an einen Unfall. Erst als die Boote davonfuhren, erkannten die Zurückgelassenen bestürzt, dass sie auf dem Floß im Stich gelassen worden waren - ohne Lebensmittel, ohne Wasser, nur mit einigen Fässern Wein.

Sie schafften es, einen Mast aufzurichten und Seile zu spannen, um sich halten zu können. Dennoch wurden viele ins Meer gerissen. Ein Gemetzel mit Messern und Säbeln entbrannte, als Betrunkene das Floß versenken wollten. Nach zwei Tagen war nur noch die Hälfte der Männer am Leben. Sie begannen, vom Fleisch der Toten zu essen. Als der Weinvorrat zur Neige ging, warfen die Stärkeren die Sterbenden ins Meer.

Nach zwei Wochen entdeckte ein Schiff das Floß. Fünfzehn Überlebende fanden die Seeleute noch. In Frankreich entfachte die Nachricht vom Schiffbruch der Méduse und dem Kannibalenfloß einen ungeheuren politischen Skandal. Nach der Wiederherstellung der Bourbonen-Monarchie hatte der Marineminister hunderte napoleonische Offiziere entlassen und durch Veteranen des Ancien Régime ersetzt. Einer von diesen war der Kapitän der Méduse, der seit der Revolution kein Schiff mehr geführt hatte. Sein Versagen hatte die Tragödie verschuldet - ein gefundenes Fressen für die Opposition.

Géricaults spektakuläres Gemälde brachte ihm 1819 nicht den erhofften großen Durchbruch, aber heute ist es einer der berühmtesten Schätze des Louvre. Seit zwei Jahrhunderten beschäftigt das Floß der Medusa immer wieder Schriftsteller, Dramatiker, Künstler und Komponisten. Mit seiner Geschichte von Verrat, Gewalt, Verzweiflung und Überlebenswillen ist es zu einem Mythos geworden.


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