Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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26. Oktober 1909 Marie Marvingt fährt als erste Frau einen Ballon über die Nordsee

Sie war Krankenschwester, Sportlerin und Pilotin: Marie Marvingt. Sie fuhr als erste Frau in einem Ballon über die Nordsee von Frankreich nach England. Und sie hatte eine Idee: Verletzte und Kranke aus der Luft zu versorgen – und stieß damit viel zu lang auf der taube Ohren. Autorin: Justina Schreiber

Stand: 26.10.2021 | Archiv

26 Oktober

Dienstag, 26. Oktober 2021

Autor(in): Justina Schreiber

Sprecher(in): Krista Posch

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

Das Verhalten des Monsieur Garnier verdiente in den Augen von Mademoiselle Marvingt größtes Lob. "Trotz der Gefahr", so schrieb Marie Marvingt in ihrem Erlebnisbericht, verlor er "das Vertrauen nicht". Und zwar das Vertrauen in sie, die 34-jährige kinderlose Single-Frau, die vor keiner sportlichen Herausforderung zurückschreckte.

Braut der Gefahr

"Braut der Gefahr" – so hatte sie ein Freund genannt. Das konnte man wohl laut sagen. Marie Marvingt war "das" französische Super-Girl des frühen 20. Jahrhunderts. Bevor sie am 26. Oktober 1909 um 8 Uhr abends zu diesem waghalsigen Ausflug mit Émile Garnier im Schlepptau aufbrach, hatte sie bereits mehrfach bewiesen, dass die Unterscheidung zwischen starkem und schwachem Geschlecht für sie nicht galt. 1906 durchschwamm sie Paris in der Seine. 1907 gewann sie ein internationales militärisches Wettschießen – als einzige Frau weit und breit, versteht sich. 1908 fuhr sie bei der Tour des France mit, als Frau unerlaubterweise, versteht sich. Sie erklomm fast alle Gipfel der französischen und Schweizer Alpen. Außerdem konnte Marie Marvingt Eis laufen, golfen, Seiltanzen und Kunstreiten.

Fliegerin, grüß mir die Sonne!

Monsieur Garnier tat also wirklich gut daran, sich nicht von blöden Vorurteilen leiten zu lassen, als er am 26. Oktober 1909 bereitwillig den Korb dieses Fesselballons bestieg, den Marie Marvingt nun von Frankreich über die Nordsee nach England zu lenken gedachte. Als erste Frau, versteht sich, die so etwas wagte - obwohl sie noch nicht einmal eine Ballonführerlizenz besaß.

Dass sich ihre Rekord-Fahrt dann zu einem teuflischen Ritt über das sturmgepeitschte Meer entwickelte, war weniger ihre Schuld, sondern lag vor allem an dem Wetterumsturz, der sich schon nach einer Stunde ereignete. Aber Marie Marvingt und – nach ihren Anweisungen - ihr Passagier machten alles richtig, als sie wassern mussten und keinen Ballast mehr zum Abwerfen hatten, um wieder aufsteigen zu können… als zehn Meter hohe Wellen die Gondel wie ein Spielzeug herumwarfen und sie mit einer Geschwindigkeit von 80 km/h dahinsurften, bis sie ein Windstoß plötzlich an Land trug. Da schaffte es Marie Marvingt dann allerdings nicht mehr, die aufgequollene Reißleine zu ziehen. Der Ballon setzte auf einem Baum auf, sie flog heraus. Und ihr Passagier hob alleine wieder ab. Doch Ende gut, alles gut - ohne den weiteren Verlauf der abenteuerlichen Nacht jetzt hier allzu detailgetreu wiederzugeben. Trotzdem bekam Marie Marvingt einen ordentlichen Shitstorm in den Medien ab: sie, die examinierte Krankenschwester, habe sich ihrem Mitfahrer gegenüber nicht besonders fürsorglich verhalten. Aber Marie Marvingt, die kurz darauf ihre Begeisterung für das Fliegen entdeckte und den Pilotenschein machte, nahm Kränkungen wie alles andere: nämlich sportlich. Obwohl es die Pionierin schon wurmte, dass es zwei Weltkriege und Millionen von Toten brauchte, bis "man" endlich ihren Vorschlag (den Vorschlag einer Frau!) in die Tat umsetzte und Verletzte auch aus der Luft versorgte. Immerhin, irgendwann fiel der Groschen. So kam es, dass Marie Marvingt letztlich nicht als Ballonfahrerin von zweifelhaftem Ruf, sondern als "Mutter der Luftambulanz" in die Geschichte einging.


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