Bayern 2 - Hörspiel


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Die Ästhetik des Widerstands Laudatio "Hörbuch des Jahres 2007"

Von: Volker Lilienthal

Stand: 25.11.2014 | Archiv

Laudatio zur Preisverleihung am 20. Januar 2008 in Wiesbaden

Die Ästhetik des Widerstands, die Peter Weiss in drei Bänden 1975, 1978 und 1981 vorlegte, gilt als eines der sperrigsten Werke der neueren  deutschen Literatur: sprachlich streng, politisch radikal. Es war vor allem Weiss' Beharren auf dem kulturellen Erbe der Arbeiterbewegung und der notwendigen Erinnerung an die Gräuel des Nationalsozialismus, das ihm in der Literaturkritik einer saturierten Bundesrepublik der späten 1970er Jahre viel Ablehnung eintrug. Als "kommunistisches Propagandawerk" wurde das rund tausendseitige Werk geschmäht, obwohl es doch in Wahrheit eine Synthese aus Politik und Kunst auf hohem Niveau versucht - großenteils gelungen, teils aber auch widersprüchlich bleibend.

Umso mehr ist es dem Bayerischen Rundfunk und dem WDR zu danken, dass sie diesen Reflexionsroman zur Vorlage eines 12-teiligen Großhörspiels in der Länge von zehneinhalb Stunden gemacht haben. Entstanden unter der Dramaturgie von Herbert Kapfer (BR) und inszeniert von Karl Bruckmaier sendete Bayern2Radio das Stück von Mitte Januar bis Anfang April, und der Partner WDR hatte im Mai vergangenen Jahres den Mut, das Werk an einem Sonntag fast zwölf Stunden lang, nahezu nonstop, auszustrahlen. Die Hörbuchedition zum Nach- und Immerwiederhören ist im hörverlag erschienen, ergänzt um ein lesens- und anschauenswertes Beibuch.

Da ist es noch mal, das kernige Kulturradio, das sich um Moden und Programm-Schemata nicht schert, das seinen Hörern einiges abverlangt, aber eben auch vieles bietet. In diesem Fall waren es historisch-politische, aber auch emotionale Hörerlebnisse aus dem Leben eines jungen Arbeiters zur Zeit des Nationalsozialismus, der sich nach Spanien aufmacht, um gegen den Faschismus zu kämpfen, der sich zusammen mit seinen Genossen die großen Werke der Kunst wie ein Stärkungsmittel im politischen Kampf aneignet - doch der schreckliche Gegner ist stärker und am Ende bleibt dem jungen Arbeiter, der bei Weiss namenlos ist und so auch in diesem Hörspiel, nur noch, die Hinrichtung seiner Gefährten in Plötzensee würdevoll-unerbittlich zu protokollieren.

Die Ästhetik des Widerstands ist weit mehr als ein sogenannter proletarischer Bildungsroman, sie erzählt eine ganze Epoche aus Politik und Kultur, Verrat und Solidarität, Verzweiflung und Hoffnung. Den Steinbruch des schriftstellerischen Materials hat Regisseur Bruckmaier klug sortiert, in zwölf Hörkapiteln, deren schlichte Überschriften Orientierung bieten: "Der Altar", "Der Traum", "Der Vater", "Spanien", "Guernica", "Im Exil", "Der Auftrag", "Brecht", "Die Mutter", "Der Untergrund", "Plötzensee", "Die Ausgesetzten".

Als intelligenter Kunstgriff von Dramaturgie und Regie hat es sich erwiesen, den Ich-Erzähler in zwei Stimmen zu zerlegen, zwei Stimmen, die wie in einem inneren Dialog miteinander verwoben erscheinen: in die des jungen Mannes, der sich engagiert, sich anfangs noch ohne Zweifel dem Widerstand verschreibt, und in die des alt gewordenen Kämpfers, dessen Erfahrung hörbar von Enttäuschung untermischt ist – enttäuscht  auch von den Genossen stalinistischer Prägung, durch Verrat, Misstrauen und Repression in den eigenen Reihen. Peter Fricke spricht den Alten, Robert Stadlober aus Kärnten, Jahrgang 1982, den Jungen.

Wir hören Rüdiger Vogler als Vater, Helga Fellerer gibt der Mutter von Coppi, einem Freund des Ich-Erzählers, Stimme, Katharina Schubert ist als Marcauer zu hören, Hanns Zischler als Poelchau. Eingestreute Geräusche, deren Rätselhaftigkeit gewollt scheint – ein Kratzen auf Stein, heftiger Flügelschlag von Tauben, Wassertropfen, Luftzug, sparsamst eingesetzte Minimalmusik (von David Grubbs) -, diese Geräusche sorgen für Strukturierung, aber auch für Irritation. Sie wirken wie audiophone Platzhalter des Unaussprechlichen, wie ein plötzliches Aufquellen der Vergangenheit, die nicht vergangen ist.

Bruckmaiers "Ästhetik" ist alles andere als historisches Ohrenkino geworden, sondern ein Hörspiel, das ganz auf Sprache setzt, das respektvoll vertraut auf den strengen, exakt beschreibenden, manchmal auch dozierenden Stil der literarischen Vorlage von Peter Weiss. Mit großer Ernsthaftigkeit hat sich der Regisseur mit der literarischen Vorlage auseinandergesetzt. Der emotionale Ernst, der die konsequente Atmosphäre dieses Hörwerks ausmacht, rührt vor allem auch aus den Stimmen der hier versammelten Sprechkünstler (meisterhaft: Peter Fricke) her. Das Resultat bürgt für Werktreue, lässt aber auch ästhetischen Eigensinn hören.

Diese zehneinhalb Stunden haben Höhepunkte (wie das Spanien-Kapitel und das Brecht-Porträt), doch die eigentliche Klimax ist konsequenterweise erst in Folge elf und zwölf erreicht: "Plötzensee" und "Die Ausgesetzten". Hier wird an die Hinrichtung der Widerstandskämpfer sympathetisch erinnert, aus dem Kollektiv der Kämpfer treten die leidenden Individuen hervor, nehmen den Hörer für sich ein, zwingen zur inneren Positionierung gegen das Unrecht.

Ästhetisches Lernen als Politik: das ist der Widerstand, die Stirn, die kluge Kunst wie diese der Geschichte bietet. Das Monologische, das Peter Weiss' Roman auch kennzeichnet, löst Bruckmaier zum Ende hin mehr und mehr in dialogische Vielstimmigkeit auf. Beherrschende Frauenstimme zum Schluss: Susanne-Marie Wrage als Bischoff, sie erlaubt dem jungen Stadlober ganz zum Schluss einen Ausbruch schreiender Klage: "Und es würde kein Kenntlicher kommen, den leeren Platz zu füllen. Sie müssten selber mächtig werden dieses einzigen Griffs." Es klingt wie ein Chor der Wiedergänger: Die Hingerichteten kehren zurück und klagen an.

Peter Weiss hat 1976 in seinem Arbeitsjournal notiert:

"Kunst, Kultur, das bedeutete etwas Weites, Großes, das umschloss überhaupt Kritikfähigkeit, Neuerungswillen, Fähigkeit zum Ausblick. Die visuelle Revolution bedeutete: reicher, tiefer, wahrheitsgemäßer sehen zu können –"

Peter Weiss

Ich bin sicher, hätte Peter Weiss dieses rund 30 Jahre nach seinem Roman entstandene Hörspiel noch erlebt, er würde sagen: Es gibt nicht nur eine visuelle Revolution, die unser Wahrnehmen weitet. Es gibt auch eine akustische, eine audiophone, eine radiophone Revolution. Auszuzeichnen ist heute ein Großwerk deutscher Hörspielarbeit und ein Hörbuch, das das Verständnis des großen Romans von Peter Weiss nicht nur vertieft oder überhaupt erst ermöglicht, sondern in sinnenreiche Erfahrungswelten erweitert.

Eine solche künstlerische Rundfunkarbeit ist selber: der Widerstand der Ästhetik gegen alle Profanierung von Kultur und Medien.


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