Bayern 2 - Hörspiel


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Die Ästhetik des Widerstands Über die Arbeit an Peter Weiss’ Roman

Von: Karl Bruckmaier

Stand: 25.11.2014 | Archiv

Die Literatur schweigt

Der amerikanische Literaturkritiker Hugh Kenner schreibt in der Einleitung zu "The Stoic Comedians", dass der moderne Roman seit den Tagen von "Madame Bovary" oder "Bouvard und Pécuchet" einen Leser voraussetzt, der sich in den Text begibt wie ein Scott ins antarktische Eis, wie ein Livingstone in den afrikanischen Dschungel: unerschrocken, trainiert, mit allem verfügbaren Wissen seiner Zeit und Zunft ausgestattet, Nachschlagewerke und Sekundärliteratur in Griffweite – und taub. Denn diese Literatur schweigt. Sie hat keine Stimme, nur ein Zeichensystem. Ihre neuartige Komplexität verlangt nach keinem Rezitator, sondern nach einem Höhlenforscher, der hinabsteigt und hinein in die noch unerforschten, weitläufigen, labyrinthischen Textmaschinen und der hinter sich lässt jene terra cognita, in der die Schrift nur die Fixierung des gesprochenen Worts war – "Ulysses" einfach aufschlagen und vielleicht sogar laut daraus vorlesen? Welche Torheit! Welcher Unverstand. Welch vergebliche Mühe…

Großroman der Moderne

Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss gehört mit seinen Buchstabenwüsten, seinen endlos scheinenden Sätzen, seiner Interpunktion, die nur Punkt und Komma kennt und sonst nichts, seinem grauen Leineneinband zu diesen Großromanen der Moderne, die hermetisch und abweisend immer wieder Platz finden in jenen gelegentlich auftauchenden Listen der "ungelesensten Bücher" und doch haben diese auf osmotische Weise ihren Eingang gefunden in unsere (Alltags-)Kultur: Hat man den Mann ohne Eigenschaften nicht auch dann gelesen, wenn man Robert Musil überhaupt nicht kennt? Ist Google nur ein anderer, zeitgemäßer Name für das an einem Tag fixierte Dublin des großen Dubliners? Versteht man nicht die bloße Erwähnung einer Ästhetik des Widerstands als drängende Aufforderung, alles in seinem Leben einer Prüfung zu unterziehen?

Ästhetik der "Ästhetik"

Will man mehr als diese geahnte Teilhabe an einem solchen Werk, muss man - Arbeit auf sich nehmen, Zeit investieren. Und das in einem kulturellen wie ökonomischen Umfeld, das einem vorgaukeln will, dass alles sofort und zum Schnäppchenpreis zu haben sei. Wer die Die Ästhetik des Widerstands kürzt, für das Hörspiel einrichtet, ja, bis zu einem gewissen Grad dramatisiert und schließlich inszeniert – ein Prozess, der sich über 14 Monate hingezogen hat – wird den Verdacht erregen, aus einem Großwerk ein handelsübliches Hör-Häppchen für die tägliche Fahrt ins Büro machen zu wollen. Gut, das kann dann gern ein anderer versuchen: Streicht man nämlich die tausend Weiss’schen Seiten, das in zehn Jahren bis in subtilste Vokal- und Konsonantenkluster durchkomponierte Schreibgebilde notgedrungen auf ein Drittel des Romanumfangs zusammen, dann wählt man natürlich zuerst jene großen Passagen aus, die in ihrer akribischen Art und Ausführlichkeit den Text stellenweise zu überfrachten scheinen – all diese Details zur schwedischen Sozialdemokratie, zu den ideologischen Unterschieden in Spaniens Linker, zu den Farbschattierungen in einem Gemälde Gericaults, wer will sie wissen, wer will jede Nuance eines Theaterstücks kennenlernen, das Brecht dann doch nie geschrieben hat – um feststellen zu müssen, dass nach der Entkleidung des Textes von diesen Faktenschleudereien und diesem Namensgehubere eine eigentlich nur noch pornographisch zu sehende Besessenheit mit dem Sterben übrig bleibt – W.G. Sebald ist da höflicher und nennt es "sadomasochistische Präokkupation" -, die schon der Leser kaum mehr ertragen kann, wie dann erst der Autor? Ausgelagert in Äußerungen der Figuren Charlotte Bischoff und des Vaters des Protagonisten erklärt sich der Roman und seine Intention selbst: Alles will genauestens beschrieben sein, jeder Name genannt, jeder Fakt analysiert, auf dass am Ende – dem Ende all der Folter? – keine Unklarheit mehr bestehen bleiben kann am Wem und am Warum. Den Gegenpol zu diesem unscheinbaren Hyperrealismus bilden im wortwörtlich gleichen Atemzug die langen Expeditionen in Kunstwerke hinein, Guernica, Das Schloss, Der Streik. Und schließlich halluzinierende Passagen zwischen Traum und Albtraum – sozialistischer Surrealismus?

In einem Text, in dem ein Hitler nur als Bärtchen auftaucht und ein Herakles nur als Lücke in einem Fries, als bloße Möglichkeit, galt es, die Balance zu finden und zu halten zwischen inhaltlicher und chronologischer Stringenz und einer Ausstellen der reichhaltigen, über das schriftstellerische hinausgehenden Möglichkeiten, die Peter Weiss zur Verfügung stehen – bis hin zur Fremdheit des Autors in der eigenen Sprache, die oft genug zu eigentümlich unrichtig wirkenden grammatischen und stilistischen Stellen führt, aber recht eigentlich die Sprache des Exils sein dürfte, eine schleichende Stigmatisierung des Schreibenden als Unzugehörigem. Hier jedenfalls wird der Bearbeiter zum Kritiker. Und da ein Regisseur eigentlich nichts anderes ist als ein Kritiker, der es nicht nur besser weiß, wie dieses und jenes und überhaupt alles geht, sondern der auch die Möglichkeit hat, sein Verstehen und Wissen gestaltend umzusetzen, war es für mich als hauptberuflichem Kritiker und nur gelegentlichem Regie-Darsteller der Glücksfall meines Lebens, diese Arbeit ausführen zu können, nach der Ästhetik der "Ästhetik" zu suchen. Und sie hoffentlich darin gefunden zu haben, den scheinbaren ideologischen Monolithen aufzubrechen durch eine Aufspaltung des erzählenden Ichs in ein "zeitgenössisches" und in ein schreibendes, reflektierendes Ich, deren Zweieinigkeit es ermöglicht, den Text aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten.

Wortwälle

An dieser Stelle gilt es sofort, vom Regisseur und Bearbeiter weg und auf die Schauspieler zu weisen, da im Studio die bloße Idee nichts ist – und das Umsetzen der Ideen eines Dritten, eines Fremden alles. Robert Stadlober, Peter Fricke, Rüdiger Vogler, Christian Friedel, Susanne-Marie Wrage und all die anderen haben sich darauf eingelassen, sich bei der Schaffung eines für den einzelnen Akteur nicht zu überblickenden Ganzen emotional zu entblößen, sich in dieses Labyrinth aus filmischen, poetischen, dramatischen und stur faktischen Wortwällen hineinzubegeben, nur schwach geführt, tastend manchmal, manchmal aber dezidiert, für sie befremdend, unverstehbar, wenn man so allein und seit Stunden in abweisenden Studiokatakomben sitzt – und der rote Faden hinaus nur das Wort des Regisseurs ist, das alles so seine Richtigkeit habe.

Hörspiel Fassung

Diese Hörspielfassung von Die Ästhetik des Widerstands ist von der ersten bis zur letzten Sekunde künstlich; die Inszenierung weist ständig darauf hin, dass wir uns alle in einem Text bewegen – einem Text, der zwar mit Emphase und Empathie verstehbar, nachvollziehbar gemacht werden soll und mit den Möglichkeiten der Medienkunst hörbar, der aber keinesfalls als realistisches Kammerspiel daherkommen will. Unterstützend wirkt dabei das Geräuschdesign, das mit den Steinen am Altar von Pergamon beginnt, sich ganz archaisch durch die akustische Repräsentation der vier Elemente Stein/Erde, Wasser, Feuer und Luft bewegt und sich schließlich im Hinrichtungsraum von Plötzensee findet, wo man den Regen fallen hört, während das Mikrophon an der Wand schabt, um ihr ein Geräusch, eine akustische Aussage zu entlocken und draußen Spatzen und Amseln und Nebelkrähen lautgeben, als wollten sie im Nachhinein bestätigen, dass dieses Schlagen von Flügeln, das sich durch alle Teile der Inszenierung zieht, schon seine Richtigkeit hat. So wie Hanns Zischler, dessen Beitrag wir für Die Ästhetik des Widerstands als letztes aufgenommen haben, im zufälligen Gespräch über den schwedischstämmigen, in Berlin lebenden Schlagzeuger Sven-Åke Johansson jenes Buch von Hugh Kenner erst erwähnte, in dem so treffend erklärt wird, was wir all die Stunden, Tage und Wochen hier im Hörspielstudio getrieben haben: Wir haben einer Literatur, die das gesprochene Wort nicht mehr braucht, trotzdem eine Stimme gegeben, eine akustische Form, die das Kunstwerk nicht seiner höchstverfeinerten Eigenheiten beraubt, es aber auf einer ursprünglich unmöglich intendierten Ebene rezipierbar macht. Dem Roman, dem Schriftsteller selbstbewusst dienend.


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