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"Die kleine Judith habe ich nie gesehen" Vor 70 Jahren: Deportation der Juden

"Ein Grab in den Lüften", dichtete Paul Celan für die Opfer der Shoah. Denn nichts sollte von den europäischen Juden übrigbleiben, nichts an sie erinnern. Kein Stolperstein erinnert an die Familie von Alfred Koppel, die vor 70 Jahren aus München deportiert wurde. In den Tod.

Von: Ulrich Trebbin

Stand: 21.11.2011 | Archiv

Ttransport von Juden in einem Eisenbahnwaggon | Bild: Süddeutsche Zeitung Photo / Scherl

Jahrelang haben die Nazis die Schlinge immer enger gezogen: Die Juden durften nicht mehr arbeiten, keine Haustiere mehr halten, kein Eigentum mehr besitzen. Im November 1941 begannen die Münchner Behörden dann planmäßig den Mord an den hiesigen Juden.

"Sie glaubten, sie würden umziehen"

März 1945: Häftlinge  im Konzentrationslager Flossenbürg bei der Essensausgabe | Bild: picture-alliance/dpa zum Thema Konzentrationslager in Bayern Dachau und Flossenbürg - Orte des Nazi-Terrors

Dachau und Flossenbürg: zwei Begriffe, die - wie keine anderen in Bayern - mit dem Terror der Nationalsozialisten und zigtausendfachem Mord verbunden sind. Die Geschichte der beiden bayerischen Konzentrationslager. [mehr]

Am 20. November wurden 1.000 Münchner Juden in einen Zug gesteckt und deportiert. „Sie glaubten, sie würden umziehen und in ein Lager kommen, um zu arbeiten“, erzählt Alfred Koppel, der seine Familie durch die Shoah verlor und heute in den USA lebt.

Wenige Tage später haben die Nazis sie dann in Litauen erschossen. Unter den Opfern waren auch die Mutter und vier Geschwister von Alfred Koppel. Im November 1941 war die Familiel im Lager Milbertshofen interniert. Streifen mit Hunden patrouillierten Tag und Nacht an den Zäunen entlang. Ihren Besitz hatten die Internierten bis auf ein paar Koffer verloren.

Zug in den Tod

In den frühen Morgenstunden des 20. November mussten sie dann bei strömendem Regen zum Güterbahnhof Milbertshofen marschieren und in den Zug steigen. Nur die Hälfte der tausend Passagiere hatte einen Sitzplatz. Wasser gab es während der tagelangen Zugfahrt kaum. Ziel war die Stadt Kaunas in Litauen.

"Ich war dort. Ich habe es besucht, um zu sehen – eine der schlimmsten Ansichten, die ich je gesehen habe. Ein richtiges Gefängnis. Da wurden sie eingesperrt in den Kellern für drei Tage. Am 25. November wurden sie – jedes mal 50 Menschen – rausgebracht und in Schluchten hingestellt und mit Maschinengewehren erschossen. Ich kann mir das nicht vorstellen, wie das geschehen ist. Ich habe darüber geschrieben, was so schwer war. Man kann sich das nicht vorstellen."

(Quelle: Alfred Koppel)

„Mein Vater (…) hat beinahe seinen Verstand verloren“

Buchtipp

Die Daten der verfolgten und ermordeten Münchner Juden verzeichnet das "Biographische Gedenkbuch der Münchner Juden 1933-1945. Band 1 und 2". Die beiden Bände sind im eos Klosterverlag St. Ottilien erschienen, umfassen etwa 1.800 Seiten und kosten 99 Euro.

Der 16jährige Alfred hatte sich mit seinem kleinen Bruder Walter zum Vater nach Amerika retten können. Der versucht, jetzt auch noch den Rest der Familie nachzuholen. Er schreibt verzweifelt Briefe an seine Frau Carola, um irgendwie ihre Auswanderung zu bewerkstelligen. Nach dem Krieg erfahren sie, dass sie und ihre Kinder Günther, Hansi, Ruth und Judith nicht mehr leben.

"Über 50 Jahre konnte ich nicht darüber sprechen, nicht recherchieren, nichts. Wenn man älter wird – man weiß, dass man nicht immer leben wird – muss man doch was tun, um damit fertig zu werden. so habe ich angefangen zu recherchieren. Was mir sehr schwer war. Je älter man wird, desto schwerer wird es für mich. Die kleine Judith, ich habe sie nie gesehen. Die vier Geschwister – sechzig Jahre nicht zusammen gewesen. Meine Mutter … Es ist gut, dass ich darüber reden kann. Mein Vater konnte nicht darüber reden – und hat beinahe seinen Verstand verloren."

(Quelle: Alfred Koppel)

Keine Gräber, nur Asche

Synagoge in Straubing | Bild: picture-alliance/dpa zum Thema Jüdisches Leben Talmud und Tora in Bayern

Verfolgung, Vertreibung, Mord waren ständige Begleiter in der Geschichte der Juden. Hitler hätte sie fast ausgelöscht, auch in Bayern. Heute gibt es wieder jüdische Gemeinden im Freistaat. [mehr]

Al Koppel ist seit langem Amerikaner. Immer wieder kommt er zurück nach München. Geht in Schulen. Steht vor seinem Elternhaus in der Maximilianstraße. Er würde viel darum geben, wenn dort im Bürgersteig fünf Stolpersteine an seine Lieben erinnern würden. Doch das hat die Stadt 2004 verboten. In Kaunas gibt es nicht einmal ein Grab für seine Toten. Denn Ihre Leichen wurden in einem Massengrab verscharrt, später ausgegraben und verbrannt.

"So sind da keine Gräber. Es ist nur Asche, die mit Erde vermischt ist, keine Grabsteine, nicht mal eine Blume. Es ist eine große Wiese und nichts da. Das einzige, das eine Relationship, eine Beziehung gibt, ist, wo wir mal gelebt hatten. Dass da ein Gedenkstein ist, dass man da stolpert und darüber denkt."

(Quelle: Alfred Koppel)


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