Geduldig stehen sie an für ein Selfie mit dem Bundeskanzler. Gerade hat Olaf Scholz seine knapp einstündige Rede beendet, es gäbe jetzt etwas zu essen, hinten in der großen Halle, aber dann ist Scholz vielleicht schon nicht mehr auf der Bühne. Wenig ist davon zu spüren, dass bis vor sehr kurzer Zeit in der SPD eine handfeste Kanzlerkandidaten-Debatte tobte. Verteidigungsminister Boris Pistorius ist in dem Gewimmel der gut 500 Menschen im Willy-Brandt-Haus, der SPD-Parteizentrale, nicht auszumachen. Er ist nicht da. Daher: alle Augen auf Scholz.
Warm-Up für die Aufholjagd
Die Rede soll der erhoffte Befreiungsschlag für die sozialdemokratische Wahlkampagne werden. Als Einheizer für Scholz dürfen die Parteichefs Lars Klingbeil und Saskia Esken ein paar Worte sprechen. Klingbeil versucht sich in Pep-Talk, die SPD sei die "Partei für die Aufholjagd", und das werde man zeigen, man habe eine Mission, nämlich Dinge besser zu machen.
Ein kleiner Hieb noch gegen den Herausforderer von der Union, von dem die SPD mutmaßt, dass er im Wahlkampf versteckt werden soll: "Friedrich Merz muss aufpassen, dass er nicht der berühmteste Totalverweigerer dieses Landes wird", und dann darf Esken den Kanzler als "genau den richtigen Bundeskanzler für Deutschland" preisen und Ex-Finanzminister Christian Lindner (FDP) für sein "Schmierentheater" verdammen. Jubel im Saal. Zumindest in der Parteispitze sind sie jetzt auf Betriebstemperatur, an die Wahlkämpfer wurden vorsorglich rote Schals ausgegeben, für den Winterwahlkampf. Es sollen sich alle warm anziehen.
Ein Déjà-vu aus dem Jahr 2021?
Ein entschlossener Scholz steht dann auf der Bühne. Nach amerikanischem Vorbild ist ein Teleprompter aufgebaut, bis zuletzt war am Redetext gefeilt worden, welche Wörter besonders betont werden sollen, welche nicht. "Die Zeiten sind ernst", beginnt der Kanzler, das Land brauche "ernsthafte, verantwortungsbewusste" Politik, "keine Spieler, keine Zocker". Der Ton ist gesetzt, so wird sich der Kanzler im Wahlkampf präsentieren, als die Verlässlichkeit in Person. Ganz im Gegensatz zu seinen Kontrahenten.
Es folgt eine Tirade gegen den ehemaligen Bundesfinanzminister Lindner: Der und seine FDP hätten die Arbeit der Bundesregierung "über Monate hinweg systematisch sabotiert", hätten aktiv verhindern wollen, dass die Regierung erfolgreich ist: "So etwas darf in Deutschland nie wieder passieren", donnert Scholz in die Halle, aus der lauter Applaus zurückschallt. Auch Scholz scheint jetzt in den Wahlkampfmodus gefunden zu haben. Seine Botschaft: Diese Wahl wird eine Richtungsentscheidung, wenn man jetzt falsch abbiege, habe das schwerwiegende Folgen. Sicherheit und Zusammenhalt stünden auf dem Spiel.
Im Willy-Brandt-Haus fühlt man sich bei so viel Wucht ins Jahr 2021 zurückversetzt, was Scholz ohne Zweifel beabsichtigt hat: "Manche haben uns ja schon abgeschrieben", sinniert er auf der Bühne, aber: "Dieselben Leute hatten uns auch 2021 schon abgeschrieben, hört nicht auf sie! Sie haben sich damals geirrt, sie irren sich auch diesmal. Ihr wisst, wie Wahlkampf geht, ich weiß, wie Wahlkampf geht. Da werden sich also einige noch ganz schön wundern."
Im Video: Politikwissenschaftlerin Münch zum SPD-Wahlkampfauftakt
Scholz macht Boden gut auf Merz
Zu diesem Zeitpunkt dürfte Scholz noch nichts davon gewusst haben, dass er in einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa gegenüber Friedrich Merz (CDU) deutlich an Boden gut gemacht hat. Gäbe es nur die Wahl zwischen Merz und Scholz würden 33 Prozent der Befragten für Scholz und 35 Prozent für Merz votieren. Im Vergleich zum Vormonat sind das sechs Prozentpunkte mehr für Scholz.
Der arbeitet sich in seiner Rede hauptsächlich am Kandidaten der Union ab, Robert Habeck (Grüne) wird nur am Rande erwähnt. Scholz hatte schon immer gesagt, dass er sich auf Merz als Unions-Kandidaten freue, und er erklärt auch warum. Wahlen würden in der Mitte entschieden, und "die Merz-Union" habe "mit der Merkel-CDU so gar nichts mehr zu tun". Ihr sozialer Flügel sei "vollständig an den Rand gedrängt". Aus einem "Bis-Hier-Hin-Und-Nicht-Weiter-Konservatismus" sei ein "Von-Hier-Aus-Zurück-Konservatismus" geworden. Darauf wollen der Kanzler und sein Team bauen.
Es folgen die üblichen Textbausteine: Die SPD will stabile Renten, den Mindestlohn auf 15 Euro ab 2026 erhöhen, die Schuldenbremse reformieren, um mehr zu investieren. Ein Investitionsbonus "Made in Germany" über 100 Milliarden Euro soll aufgesetzt, Strafzahlungen für deutsche Autobauer wegen gerissener CO2-Werte sollen mit allen Mitteln verhindert werden. Die Ukraine, ganz wichtig, soll weiter unterstützt werden, aber die gefährliche Internationalisierung des Konflikts dürfe nicht dazu führen, dass Deutschland in den Krieg hineingezogen werde. Die Botschaft des Kanzlers: Da sitzt einer im Kanzleramt, der genau abwägt, was getan werden muss: "Je mehr Putin den Krieg anfacht, desto kühler muss unser Kopf sein."
Scholz: "Ich brauche Euch, Euer Engagement und Eure Zuversicht"
Das Emotionalste, weil Persönlichste, hebt sich Scholz für das Ende seiner Rede auf. "Unsere Partei ist mir eine Heimat", sagt er, er werde in den kommenden 85 Tagen alles dafür geben, für das Land und für die Sozialdemokratie. Fast 50 Jahre ist Scholz in der Partei, er weiß, jetzt ist die Zeit für Bescheidenheit und Demut: "Ich brauche Euch."
Steht da nun der richtige Kandidat auf der Bühne? Im dicht gepackten Willy-Brandt-Haus rauscht der Beifall über den Schlusssatz "Wenn wir kämpfen, werden wir gewinnen", in Anlehnung an Kamala Harris‘ Slogan "When we fight, we win". Der Auftakt ist gelungen, findet die Mehrheit der Anwesenden in der Parteizentrale.
Der Spitzenkandidat der Bayern-SPD, Carsten Träger, attestiert Scholz im Gespräch mit BR24 eine gute Rede: "Wir haben sehr gute Argumente dafür gehört, dass wir jetzt geschlossen nach vorne gehen und das Ding rocken. Es gibt, glaube ich, keine Alternative. Wenn man sich das alles nebeneinanderlegt, wer bietet was an, dann ist ziemlich klar, dass die SPD das gewinnen muss." Es wäre nach jetzigem Stand eine faustdicke Überraschung.
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