Zu geizig? Contergan-Opfer streiten sich mit Stiftung
Das Schicksal der Contergan-Kinder hat in den 60er Jahren ganz Deutschland berührt. Heute soll die Contergan-Stiftung für sie sorgen. Doch viele Betroffene sind unzufrieden.

Die Contergan-Stiftung ist dafür zuständig, dass die Betroffenen heute ein selbstständiges Leben führen können. Doch Betroffene fragen sich, warum die Stiftung gegen sie arbeitet. Immer wieder verwehrt sie die Kostenerstattung für wichtige Hilfsmittel, den sogenannten spezifischen Bedarf. Darunter fällt auch das neue Bett von Christiane Ortel - ein sogenanntes Box-Spring-Bett, höhenverstellbar, mit Motor und Federkernmatratze. So hatte es ihr Arzt verordnet.
"Mit dem alten Bett und der alten Matratze hatte ich es nachts oft so, dass ich wach wurde. Ich war total verspannt und verkrampft. Ich war nicht mehr in der Lage, mich zu drehen. Ein paar Mal habe ich schon gedacht, ich wäre jetzt gelähmt. Dann musste ich meinen Mann wecken, dass er mich ganz vorsichtig wieder aus meiner Lage heraus gedreht hat."
Christiane Ortel, Betroffene
Die Rechnung für das Bett über 5.000 Euro hat Christiane Ortel mit ihrem ärztlichen Attest an die Contergan-Stiftung geschickt. Die Geschädigten bekommen je nach Behinderung eine monatliche Rente. Dazu stehen 30 Millionen Euro im Jahr für den spezifischen Bedarf der Geschädigten bereit. Das Ziel: Sie sollen ein möglichst selbstständiges Leben führen.
"Alles, was man mit den Händen macht, kann man sagen, ist bei den meisten Contergan-Geschädigten nicht voll funktionstüchtig. Gerade da braucht man Hilfe - beim Anziehen, beim Ausziehen, beim Waschen. Lassen Sie es mal so heiß sein wie die letzte Woche: Ich habe keine Chance alleine aus meinen Sachen zu kommen."
Christiane Ortel
30 Millionen Euro pro Jahr
Alle Contergan-Geschädigten brauchen Hilfe. Deswegen wurde die Stiftung nach einem jahrelang andauernden Prozess 1972 gegründet. Die Geschädigten haben im Gegenzug auf alle ihre Ansprüche gegen die Contergan-Firma Grünenthal verzichtet. Jetzt sind sie auf die Stiftung angewiesen. Nachdem Christiane Ortel um Kostenerstattung für ihr Bett gebeten hatte, bekommt sie Post von der Stiftung. Das Bett sei reines Wohnmobiliar, heißt es in dem Schreiben. Die Kosten würden nicht erstattet.
Auch die 54-jährige Toni ist eine Betroffene. Nach zwei Schulter- und drei Hand-Operationen hatte sie Schwierigkeiten die Rollläden raufzuziehen oder sie runterzulassen. Deswegen hat sie die Stiftung gebeten, die Kosten für einen Motor zu übernehmen.
"Wo wir das Haus gebaut hatten, da ging es mir noch gut, da konnte ich das. Aber dass das so rapide abnimmt, gerade mit der Kraft und dass diese ganzen Folgeschäden dazukommen, das wusste ich damals nicht."
Toni, Betroffene
Toni hat den Motor einbauen lassen. Die Stiftung hat die Kosten nicht übernommen. Das sei eine Umbaumaßnahme, hieß es. Für die Betroffene war das überhaupt nicht nachvollziehbar. Sie dachte, "diese Leute müssten einfach einen Tag in unserer Situation verbringen, mit unseren Schäden". Toni ist davon überzeugt, dass dann manch einer von seinem Schreibtisch aus anders urteilen würde.
Von den 30 Millionen Euro, die im Jahr für den spezifischen Bedarf der Geschädigten zur Verfügung stehen, werden bei der Stiftung nur 2,5 Millionen abgerufen. Trotzdem werden immer wieder Anträge auf Hilfsmittel abgelehnt.
"Ich muss prüfen, ob das, was beantragt wird wirtschaftlich ist, angemessen ist, und passend ist für denjenigen. Und das wird bei jedem Einzelfall geprüft."
Marlene Rupprecht, Contergan-Stiftung
Streit vor Gericht
Andreas Meyer kann nicht verstehen, warum das alles so bürokratisch ist. Er ist der Vorsitzende vom Bund der Contergan-Geschädigten. Für ihn und viele andere Betroffene ist das Verhältnis zur Stiftung schwierig. "Es gibt kein Verhältnis der Stiftung zu den Geschädigten. Die Stiftung hat den Auftrag, für die Bundesregierung Geld zu sparen. Und das ist der Punkt", sagt er.
Bei der Stiftung will man das nicht so stehen lassen und überlegt, ob man das Geld an die Betroffenen nicht pauschal auszahlen sollte.
Doch das ist noch offen. Christiane Ortel ist vor Gericht gegangen, um die Kosten für das Box Spring-Bett doch noch erstattet zu bekommen. Das Verwaltungsgericht in Köln hat in ihrem Sinne entschieden und klar gemacht: Die Stiftung muss das Bett zahlen. Dafür ist sie da.
"Dieses Bett ist für mich ein medizinischer Bedarf und auch ein Hilfsmittel. Das lindert meine chronischen Schmerzen, ich hab das Bett ja jetzt zwei Jahre. Es hat mir ja unheimlich viel geholfen. Ich kann wieder alleine aufstehen, was ich vorher nicht konnte."
Christiane Ortel
Das Gericht hat dabei klargestellt, dass der spezifische Bedarf bei Contergan-Geschädigten sehr viel weiter zu fassen ist. Doch freuen kann sich Christiane Ortel noch nicht. Die Contergan-Stiftung will gegen das Urteil Berufung einlegen.
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Andrea Kornak, Mittwoch, 29.Juni 2016, 22:45 Uhr
4. Richtigstellung !
1. Andreas Mayer vertritt uns Geschädigte im Stiftungsrat der Conterganstiftung und ist Vorsitzender des BCG
2. Die Geschädigten wurden per Stiftungsgesetz enteignet ! Die Betroffenen haben nicht auf Entschädigung verzichtet !
3. Warum sagt Frau Rupprecht, dass sie so restriktiv prüfen müsse ? Die von ihr und dem Familienministerium in Auftrag gegebene Expertise
besagt das Gegenteil, genauso das Verwaltungsgericht ! Ich vermute, auch Frau Rupprecht wird vom Familienministerium unter Druck
gesetzt. Laut der Expertise hat das Familienministerium ganz überwiegend alleine das Sagen. Zuständig ist Frau Dr. Kürschner seit weit
über 10 Jahren.
Ich bitte um Rchtigstellung,
Stephan Hafeneth, Mittwoch, 29.Juni 2016, 22:30 Uhr
3. Conterganstiftung
Natürlich sind wir unzufrieden. Die Politik hat für jeden Contergangeschädigten im August 2013 20.000 € jährlich zugesagt, damit Betroffene spezifische Bedarfe daraus decken können. Das Antragsverfahren ist völlig bürokratisch und vor allem unnötig. Es entspricht auch nicht dem Geist dieses Beschlusses. Versprochen wurde rasche und unbürokratische Hilfe. Wie peinlich, dass von 90 Millionen € (2013-15) quasi nur 5 Millionen ausgezahlt wurden. Der Rest ging zurück in den Bundeshaushalt. Es ist aber nicht so, dass so wenig beantragt wurde, wie im Beitrag gesehen, wurde vieles auch nicht genehmigt, sondern allein schon das Antragsverfahren ist fast so demütigend, wie bei Sozialamtsanträgen. Aber bitteschön... es ist unser Geld! Geld, womit die Bundesrepublik Deutschland ihr 50jähriges Nichtstun uns gegenüber wieder gut machen wollte. Es ist ja wohl Recht und billig, dass wir diese 20.000 € pro Kopf pro Jahr nun auch ausbezahlt bekommen wollen.
Michael Rosenberg, Mittwoch, 29.Juni 2016, 21:50 Uhr
2. Contergan
Nach Aussage eines von der Stiftung in Auftrag gegebenen Rechtsgutachtens der Kanzlei SOJURA, war eine rechtlich saubere Beantragung und Bewilligung der Mittel für spezifische Bedarfe kaum möglich. Hierdurch wurden die Opfer um über 100 Mio € geschröpft, da die Mittel nicht verbraucht werden konnten und an den Bund zurück geflossen sind. Diese über 100 Mio € müssen nun mit den künftig pauschalen Leistungen für spezifische Bedarfe ausgezahlt werden. Sonst entsteht wieder ein schlimmes Unrecht.
Stefanie Meissner, Mittwoch, 29.Juni 2016, 21:46 Uhr
1. Ein Dialog mit Opferorganisationen wäre die beste Lösung
Meiner Meinung nach sollte Marlene Rupprecht als Vorsitzende der Conterganstiftung das Gespräch mit den Contergan-Opferverbänden suchen, um mit ihnen gemeinsam in einem Dialog auf Augenhöhe festzustellen, wie hoch die in diesem Artikel erwähnten Pauschalen sein sollten, um allen Betroffenen ein selbstbestimmtes Leben in Würde zu ermöglichen. Hierbei sollte auch berücksichtigt werden, dass die Folgeschäden der Opfer, die von den nicht-typischen Bewegungsabläufen, für die der menschliche Bewegungsapparat eigentlich gar nicht ausgelegt ist, verursacht werden, von Jahr zu Jahr zunehmen und somit für jeden Betroffenen auch immer größere Kosten verursachen. So sollte zum Beispiel Christiane Ortel mit Hilfe der geplanten Pauschalen nicht nur ihr dringend benötigtes Box-Spring-Bett bezahlen können, sondern auch ihre Wohnung so behindertengerecht einrichten können, dass immer weiter fortschreitende Folgeschäden vermieden werden.