Respekt - Respekt

Geflüchtete 1. und 2. Klasse?

RESPEKT Geflüchtete 1. und 2. Klasse?

Stand: 22.06.2022

Die Massenflucht aus der Ukraine erinnert zwar in vielem an die Jahre 2015/16. Doch für die Menschen, die heute vor der russischen Invasion fliehen, läuft vieles ganz anders als etwa für Geflüchtete aus Syrien. RESPEKT fragt, warum? Haben wir aus den damaligen Erfahrungen gelernt? Oder ist für uns ein:e Geflüchtete:r eben einfach nicht gleich eine:e Geflüchtete:r? Aber wie definieren wir überhaupt, was ein:e Geflüchtete:r ist und welche Rechte und Pflichten gehen damit einher?

  • Das Recht auf Asyl ist im deutschen Grundgesetz verankert und gewährleistet jedem Asylsuchenden die gleichen Grundrechte. Eigentlich.
  • Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine sind von dort in wenigen Wochen mehr Menschen nach Deutschland geflohen als im ganzen Jahr 2015. Anders als damals spricht aber kaum jemand von einer "Flüchtlingskrise".
  • Anders als die Geflüchteten, die 2015/16 aus Syrien nach Deutschland gekommen sind, haben Geflüchtete aus der Ukraine von Anfang an mehr Rechte, zum Beispiel dürfen sie einer Arbeit nachgehen.
  • Die ukrainischen Geflüchteten werden außerdem sehr oft in Privatunterkünften aufgenommen und müssen keinen Umweg über Asylheime machen.

Was ist ein:e Geflüchtete:r?

Anmerkung der Redaktion: Wir zitieren bei "Was ist ...?" den Originaltext der Genfer Konvention, wie sie 1951 formuliert wurde. Deshalb zitieren wir auch den Begriff "Rasse", obwohl dieser in Bezug auf Menschen mittlerweile nicht mehr verwendet wird. Wir distanzieren uns ganz klar von diesem Begriff und von jeglichem Gedankengut, das mit diesem Begriff verbunden ist. Der historischen Vollständigkeit halber haben wir ihn genannt und wollen ihn gerne durch das Wort "Herkunft" ersetzt sehen.

Gründe zur Flucht gibt es, seit es Menschen gibt: Flucht vor Kriegen, vor Gewalt, vor Hunger oder vor Umweltkatastrophen. Heute, so schätzt man, sind weltweit mehr als 100 Millionen Menschen auf der Flucht. Sie lassen all ihr Hab und Gut zurück und riskieren ihr Leben, um am Ende vielleicht in einem sichereren Land wie Deutschland Asyl zu bekommen.
1949 wurde in Deutschland im neu geschaffenen Grundgesetz das "Recht auf Asyl" als Grundrecht aufgenommen. 1951 legte die Genfer Flüchtlingskommission fest, wer als Geflüchtete:r gilt und welche Pflichten gegenüber dem Gastland damit verbunden sind.

Wunsch nach Freiheit – Maryna aus der Ukraine

Maryna Adamenkos Flucht über Polen nach Deutschland dauerte 36 Stunden. Die Ukrainerin musste nicht in einer Turnhalle wohnen, sondern wurde privat von der Familie Chamberlain in Kirchseeon auf- und mit in den Familienurlaub nach Kroatien genommen. Maryna ist voll integriert, fühlt sich sicher und willkommen. Gemeinsam mit Gastmutter Nadine besucht sie regelmäßig Chorproben und hat als Schauspielschülerin sogar ein Praktikum an der renommierten Otto-Falckenberg-Schule bekommen. Besteht sie die Prüfung im Juli, darf sie dort sogar studieren.
"Ich habe die Ukraine noch nie so sehr geliebt, wie ich sie jetzt liebe", sagt Maryna über ihre Heimat, aber vor allem steht für sie fest:

Maryna Adamenko

"Ich möchte auf jeden Fall frei sein. Frei in dem, was ich beruflich mache. Ich möchte auch in Freiheit eine Familie gründen und mich auch innerhalb der Familie frei fühlen."

Maryna Adamenko, Geflüchtete aus der Ukraine

Der lange Weg – Mohamad aus Syrien

Mohamad Alkhalaf ist 2015 als Geflüchteter aus Syrien nach Deutschland gekommen und damit dem Gefängnis und sogar Folter und Todesgefahr entronnen. Seine Flucht dauerte sieben Monate und die erste Unterkunft in Deutschland war eine Turnhalle: Damals gab es gerade mal zwei Küchen für 200 Bewohner und auch nur zwei Duschen. Rückblickend sagt Mohamad, es habe sich angefühlt wie im Gefängnis.

Mohamad lebt inzwischen seit sieben Jahren in Kirchseeon. Der studierte Journalist ist in der Sankt Zeno Stiftung angestellt und betreut Grundschüler:innen, darunter auch fast 20 ukrainische Kinder, die in die Schule integriert werden. Die haben ein ganz besonderes Vertrauen zu ihm, weil er eine ähnliche Geschichte hat wie sie und ihre Sprache spricht. Außerdem arbeitet Mohamad ehrenamtlich für die Kleiderkammer in Kirchseeon:

Mohamad Alkhalaf

"Ich will die Hilfe [die ich bekommen habe auch] zurückgeben."

Mohamad Alkhalaf, Geflüchteter aus Syrien

Sein größter Wunsch ist es aber, wieder als Journalist zu arbeiten. Für die Süddeutsche Zeitung schreibt er bereits ab und zu über die kulturellen Unterschiede in Syrien und Bayern. Eine Rückkehr nach Syrien ist ausgeschlossen und Mohamad möchte nun endgültig in Deutschland "ankommen" und deutscher Staatsbürger werden, denn "das Dorf, in dem ich lebe, ist jetzt meine Heimat."

Flucht geschafft, wie geht es weiter?

Kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hat die EU beschlossen, die "Massenzustrom-Richtlinie" zu aktivieren. Das heißt, wer nach Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 aus der Ukraine geflüchtet ist, reist legal ein und bekommt schnelle, unbürokratische Hilfe. Und es muss nicht das übliche aufwendige Asylverfahren durchlaufen werden. Konkret bedeutet das: Ukrainische Geflüchtete erhalten sofortigen, vorübergehenden Schutz in der EU für ein bis drei Jahre, sowie medizinische Versorgung, Unterkunft, Sozialleistungen, Zugang zum Arbeitsmarkt, Recht auf Bildung und Schulbesuch, Schutz für unbegleitete Kinder und Jugendliche. Viel schwieriger ist es, das klassische Asylverfahren erfolgreich zu meistern.

  • Jede:r Geflüchtete muss normalerweise zuerst die Einzelfallprüfung bestehen, mit Registrierung als asylsuchende Person und einem Ankunftsnachweis. Damit erhält ein:e Geflüchtete:r soziale Unterstützung und die Möglichkeit, drei Monate später eine Arbeit aufzunehmen.
  • Im klassischen Verfahren folgt die sogenannte Erstverteilung und Unterbringung in Sammelunterkünften ohne freie Ortswahl nach dem "Königsteiner Schlüssel".
  • Jede:r Geflüchtete muss nun normalerweise einen persönlichen Asylantrag stellen. Im "Dublin-Check" wird geprüft, ob die Person bereits in einem anderen EU-Land einen Asylantrag gestellt hat.
  • Es folgt die persönliche Anhörung. Hier schildert die geflüchtete Person mit Beweisen ihre individuellen Fluchtgründe: Ist sie im Herkunftsland von Verfolgung bedroht, ihre Freiheit oder ihr Leben in Gefahr?
  • Dann entscheidet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Wird der Asylantrag positiv entschieden, erhält die geflüchtete Person eine Aufenthaltserlaubnis für ein beziehungsweise drei Jahre, mit Verlängerungsmöglichkeit.
  • Nach frühestens drei Jahren kann eine unbefristete Niederlassungserlaubnis folgen. Wichtigste Voraussetzungen unter anderem: gesicherter Lebensunterhalt und ausreichende Deutschkenntnisse.
  • Ein Negativbescheid bedeutet Ausreise. Man kann gegen die Entscheidung klagen. Erfolgt die Ausreise nicht freiwillig, kommt es zur Abschiebung. In Sonderfällen gibt es eine Duldung, zum Beispiel zum Abschluss einer Ausbildung. Oder es gibt ein Abschiebungsverbot mit Aufenthaltserlaubnis zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen.
  • Wer in Deutschland fünf Jahre als Geduldete:r lebt, soll aber die Chance auf ein dauerhaftes Bleiberecht bekommen; das sehen Pläne des Innenministeriums vor.


Zahlen und Fakten: Quellen (PDF)

Zahlen und Fakten "Ankommen in Deutschland – und dann?" Format: PDF Größe: 117,25 KB

Das klassische Asylverfahren im Überblick

Das klassische Asylverfahren im Überblick.

Wie läuft das klassische Asylverfahren in Deutschland ab? Der Weg ist lang und es gibt viele Stationen. Wenn ihr die Grafik links anklickt, könnt ihr euch alles noch mal genau anschauen.

Ein System von Ungleichheit und Abschreckung

Wiebke Judith ist rechtspolitische Sprecherin von Pro Asyl und weiß aus ihrem Arbeitsalltag: Ja, es gibt Ungleichbehandlung von Geflüchteten, und zwar in der gesamten EU.

Wiebke Judith im Gespräch mit Moderator Ramo Ali

"Im Asylverfahren sehen wir oft noch, dass da so eine Abschreckungsmentalität herrscht. Dass sich die Menschen während des Asylverfahrens gar nicht integrieren können sollen. Und das ist natürlich ein Riesenfehler aus unserer Sicht, weil es verlorene Zeit ist für die Menschen. Natürlich wäre es besser, wenn sie sofort anfangen können, Deutsch zu lernen und einen Job zu suchen. Das ist natürlich ganz wichtig, dahingehend eine Gleichstellung zu fordern und auch umzusetzen."

Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin bei Pro Asyl e.V.

Warum nicht gleiches Recht für alle?

Als Nadine Chamberlain und ihre Familie die Kriegsgeschehnisse in der Ukraine verfolgen, beschließen sie zu helfen. Sie wohnen in einem großen Haus, haben noch Platz und nehmen Maryna auf. Als 2015/16 Geflüchtete aus Syrien nach Deutschland kamen, lebten die Chamberlains noch in beengten Verhältnissen. Wie sieht Nadine Chamberlain die Unterschiede der Behandlung von Geflüchteten damals und heute?

Nadine Chamberlain, Gastmutter von Maryna

"Ja, also, wir merken es ja, dass für Maryna alles viel, viel einfacher ist. Sie kann mit uns reisen, kann überall hin. Sie kann arbeiten. Sie kann hier zur Schule gehen. All die Dinge, die die Flüchtlinge damals nicht durften und nicht konnten. ... Die Integration ist viel schneller und viel einfacher. Dazu sind die ganzen rechtlichen Hintergründe eben auch so viel einfacher. ... Gerecht ist das definitiv nicht, weil es alle schutzsuchende Menschen sind, die in Frieden und Freiheit leben möchten. Und warum soll der eine besser behandelt werden als andere?"

Nadine Chamberlain, Gastmutter von Maryna

Autor:in: Thomas Hauswald, Julia Wieland

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