Respekt - Respekt

Kulturelle Aneignung

RESPEKT Kulturelle Aneignung

Stand: 23.11.2022 15:02 Uhr

  • Kultur ist immer von anderen Kulturen inspiriert. Nicht immer findet dieser Austausch auf Augenhöhe statt.
  • Wenn sich Mitglieder einer Mehrheitsgruppe an der Kultur einer Minderheit (ungefragt) bedienen, um davon zu profitieren, spricht man von kultureller Aneignung.

Dreadlocks, Hip Hop, indigener Federschmuck: Nichts für Weiße?

Das Thema kulturelle Aneignung gerät immer öfter in den öffentlichen Diskurs, zum Beispiel in den sozialen Medien: Bei einer Demonstration von "Fridays for Future" wurde  eine weiße Musikerin kurzfristig ausgeladen, Grund dafür war ihre besondere Haartracht: Dreadlocks. (Unter Dreadlocks versteht man eine Frisur, bei der die Haare strähnchenweise verfilzt werden. Diese Art, die Haare zu tragen, steht in Zusammenhang mit der Rastafari-Bewegung, einer religiös geprägten Befreiungsbewegung von schwarzen Jamaikanern). Eine heftige Diskussion war die Folge: Soll diese Form der kulturellen Aneignung geahndet oder überhaupt beurteilt werden? Soll jede:r selbst entscheiden dürfen, sich so zu kleiden oder zu frisieren, wie sie oder er es für richtig hält, auch wenn sie oder er vielleicht gar nichts über die Hintergründe der "Mode" weiß? RESPEKT-Moderator Ramo Ali geht der Frage nach, ob eine weiße Person grundsätzlich Dreadlocks tragen oder Hip-Hop-Musik machen darf und ob weiße Kinder sich zu Karneval noch als indigene Kulturen verkleiden dürfen?

Wertschätzung oder Diskriminierung?

Seggen Mikael ist Host, Kulturmanagerin und Beraterin für diskriminierungssensible Medieninhalte. Sie sieht den Ursprung der kulturellen Aneignung in der kolonialrassistischen Geschichte: Menschen einer dominanten Kultur schlagen Profit aus den Kulturgütern einer anderen "Minderheitenkultur", indem sie sich die für sie fremden Kulturgüter aneignen. Dabei wird oft auch die Geschichte der Ursprungskultur verschwiegen oder die Bedeutung der jeweiligen Kulturgüter verwässert oder ganz ausgelöscht:

"Ich nenne es mal Kolumbus-Effekt – also, dass Leute es so darstellen, als hätten sie irgendwas Neues erfunden, dargestellt oder gefunden, was ja in anderen Kulturen oder in anderen Praktiken schon seit Jahrzehnten, Jahrhunderten [...] gemacht und teilweise selbst verkauft wird. Aber die, die dann profitieren und die, die den Ruhm bekommen, sind dann die anderen, die sich die Kultur aneignen."

Seggen Mikael, Host, Kulturmanagerin & Beraterin für diskriminierungssensible Medieninhalte

Wiedergutmachung?

Die Debatte über kulturelle Aneignung hat ihren Ursprung in den USA. Soziolog:innen und Kulturwissenschaftler:innen untersuchen das Phänomen seit gut 40 Jahren. Inzwischen diskutiert eine breite Öffentlichkeit über das Thema. So werden zum Beispiel immer mehr Stimmen laut, die fordern, dass Sammlungsgut aus der Kolonialzeit von westlichen Museen ausnahmslos an die jeweiligen Ursprungskulturen zurückgegeben werden sollte.

Kulturelle Aneignung in Deutschland

Kulturelle Aneignung betrifft aber nicht nur Museen, sondern auch den Alltag; Bräuche und Traditionen beispielsweise. Wenn sich einer der Könige am Dreikönigstag das Gesicht schwarz bemalt, ist das streng genommen ein Fall von "Blackfacing". (Das bedeutet, dass sich weiße Menschen mit schwarzer Farbe im Gesicht als People of Color ausgeben). Diese Tradition könnte als kulturelle Aneignung verstanden werden. Und wenn Nils an Fasching mit Federschmuck aus dem Kaufhaus und Kriegsbemalung das Mitglied eines indigenen Volks darstellt? Auch das könnte einen Fall von kultureller Aneignung bedeuten. Warum, erklären wir in "Zahlen und Fakten".

Quellen "Kulturelle Aneignung: Beispiele; internationale Debatte" Format: PDF Größe: 141,65 KB

Ein schmaler Grat

Jens Balzer ist Popkritiker und Autor. Schon lange setzt er sich mit der Thematik der kulturellen Aneignung auseinander und er sieht einen schmalen Grat zwischen kulturellem Austausch und kultureller Aneignung. Inspiration aus fremden Kulturen schöpfen, insbesondere in der Kunst, ist ja grundsätzlich sogar wünschenswert. Problematisch wird es dann, wenn Aneignungen Machtverhältnisse ausdrücken und verstärken und wenn die Ursprungskultur diskriminiert und verspottet wird. Eine klare Handlungsempfehlung hat auch Jens Balzer nicht. Ob die jeweilige Aneignung wertschätzend oder diskriminierend ist, muss von Fall zu Fall überdacht und gegebenenfalls neu ausgehandelt werden.

"Es gibt überhaupt keine Kultur ohne Aneignung. Also man kann sich nicht vorstellen, was eine Kultur wäre, die nicht von irgendeiner anderen inspiriert ist?"

Jens Balzer, Popkritiker und Autor

Interkultureller Austausch statt kultureller Aneignung

Wie man kulturelle Aneignung vermeiden und sich vielmehr auf Augenhöhe austauschen kann, zeigt das Beispiel einer Theaterinszenierung der Sozialgenossenschaft "Bellevue di Monaco" in München. Das Kulturzentrum realisiert unterschiedliche Projekte für Geflüchtete aus der ganzen Welt. Bei einem davon machen Jugendliche aus aller Welt mit: die Inszenierung des Gilgamesch-Epos.

Der Gilgamesch-Epos

Die Geschichte um den sagenhaften König Gilgamesch, der über den sumerischen Stadtstaat Uruk herrschte, ist die älteste schriftlich überlieferte Dichtung der Welt. Entstanden ist sie etwa zwischen 2.100 bis 1.600 vor Christus im babylonischen Raum. Warum ist das Epos so wichtig? Es beinhaltet alle Themen, die die Menschen schon immer beschäftigen: Freundschaft, Liebe, Macht, Tod und die Frage nach dem Sinn des Lebens.

Die Autor:innen Denijen Pauljevic und Christine Umpfenbach ermöglichen den Teilnehmer:innen dabei, alle Szenen und das gesamte Stück gemeinsam zu entwickeln. Dafür ist das Gilgamesch-Epos prädestiniert, weil der Mythos in den unterschiedlichsten Ländern und Sprachen bekannt und immer wieder neu bearbeitet und verändert worden ist.

"Dadurch, dass so viele verschiedene Menschen mitmachen, mit verschiedenen Geschichten, aber auch mit verschiedenen Privilegien entsteht wirklich ein Austausch, der wertvoll ist."

Christine Umpfenbach, Leiterin Kultur Bellvue di Monaco & Regisseurin

Das Thema kulturelle Aneignung ist hochemotional: Schwarze, indigene Menschen oder People of Color fühlen sich oft unverstanden und stigmatisiert. Weiße Personen können diese Gefühle oft nicht nachvollziehen und fühlen sich eingeschränkt oder sogar gegängelt. Ein Dilemma. Da helfen nur der Dialog auf Augenhöhe und Respekt vor der anderen Kultur. Dann ist auch der Austausch zwischen Kulturen für alle Seiten ein Gewinn.

Autor:innen: Redaktion Lernen und Wissenslab / js, jzw

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