BR Fernsehen - Sehen statt Hören


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Familiär vereint Wenn Codas Eltern werden

Wenn Kinder gehörloser Eltern - also Codas - selbst Eltern werden, können ganz neue unterschiedliche (Familien)-Konstellationen entstehen. Sehen statt Hören hat zwei Familien getroffen, die ihre besondere Geschichte erzählen.

Stand: 22.06.2023

Frank und Simone


"Eine völlig chaotische Kommunikation", die trotzdem klappt – so bezeichnet Frank seine Familie. In Innsbruck leben eine Coda als Mutter, ein hörender Vater, ein hörendes und ein gehörloses Kind zusammen.

Als Frank seiner künftigen Frau Simone zum ersten Mal begegnet, ist für ihn der Begriff Coda noch völlig neu. Er selbst konnte bereits gebärden, als er Simone im Gehörlosenzentrum traf – und war sich sicher, dass sie nicht hören kann. Sie gebärdeten eifrig, bis Frank später begriff, dass zwar ihre Eltern gehörlos, Simone aber hörend ist. Sie wurden ein Paar – und es war schnell klar, dass sich beide Kinder wünschten. Dass er mit Simone auch ein gehörloses Kind bekommen könnte, war Frank nicht bewusst: Für ihn war es selbstverständlich, dass er als Hörender hörende Kinder bekommt.

"Bei einem gemeinsamen Urlaub sagte Simone zögernd, sie müsse mit mir reden. Sie erklärte, dass bei einer Schwangerschaft eine 50-Prozent-Chance besteht, dass unser Kind gehörlos wird und fragte, ob das für mich okay wäre. Ich war erst mal zurückhaltend, denn das war was völlig Neues für mich. Ich musste das erstmal verarbeiten. Dann sagte ich ihr: Ja klar kann ich das akzeptieren. Ist doch kein Problem, ich kann ja gebärden."

Frank

Ihr erster Sohn Tobias kommt gehörlos zur Welt. Zwei Jahre später wird Lukas geboren. Er ist hörend.

"Das war für mich anfangs ein komisches Gefühl, denn nun musste ich mich wieder komplett umstellen. Mit dem ersten Kind habe ich mich auf ein gehörloses Kind und seine Bedürfnisse eingestellt - und nun mit dem zweiten auf die eines hörenden Kindes. Das war eine eigenartige Situation. Denn ab dem Zeitpunkt mussten wir überlegen, wie wir einem gehörlosen und einem hörenden Kind gerecht werden. Ein hörendes Kind entwickelt sich anders und benötigt eine andere Art der Unterstützung."

Simone

Für die Großeltern macht es keinen Unterschied, ob die Enkel gehörlos oder hörend sind. Der einzige Unterschied liegt für sie in der Sprache: mit dem einen gebärdet Opa Gottfried, mit dem andern spricht er. Die Kommunikation klappt mit beiden sehr gut. Und gerade für Tobias haben die Großeltern noch eine andere Funktion.

"[…] Er bekommt auf all seine Fragen eine Antwort, die er versteht. Sie haben einen guten Draht zueinander. Und dadurch, dass sowohl er und die Großeltern gehörlos sind und die gleiche Identität haben, sind sie Vorbilder für ihn. Durch sie erkennt er, dass alles für ihn möglich ist und er die gleichen Chancen hat."

Simone

Franks Eltern sind hörend – und können nicht gebärden. Trotzdem ist der Kontakt zu den Enkeln gut. Eine tolle Möglichkeit für Tobias, mit beiden Welten in Kontakt zu stehen – mit den Gehörlosen und den Hörenden.

Wie es wohl weitergeht mit der buntgemischten Familie? Es bleibt auf jeden Fall spannend.

"Meine gehörlosen Eltern haben an mich das Erbe als Coda weitergegeben und nun kann ich es an mein gehörloses Kind weiterreichen. Ich bin gespannt, ob seine Kinder einmal hörend oder gehörlos werden. Und ob und wie er das Erbe weiterreichen kann. Ich bin schon gespannt und neugierig auf die Fortsetzung der Geschichte."

Simone

Sonja und Wilhelm

Coda Sonja aus Berlin lernte Wilhelm kennen. Mit dem Kennenlernen von Sonjas Mutter, startete Wilhelms erste Reise in die Welt der Gehörlosen. Probleme hatte er damit überhaupt nicht, auch wenn er nicht mit der Schwiegermutter in spe kommunizieren konnte. Als Sonja dann schwanger war, machte sich Wilhelm erstmals Gedanken darüber, dass das gemeinsame Kind auch gehörlos zur Welt kommen könnte. Doch der Arzt sagte, das sei sehr unwahrscheinlich.

"Sorgen, dass das Kind gehörlos werden könnte, waren da. Die Gedanken waren auch da. Selbst wenn es so gewesen wäre, wäre das für mich auch nicht problematisch gewesen. Dann hätte ich mich nur stärker damit auseinandersetzen müssen. Das heißt, die Kommunikation von meiner Seite aus hätte natürlich anders sein müssen."

Wilhelm

Die beiden bekommen zwei Kinder – Tochter Vanessa und Sohn Tobias. Und beide sind hörend. Die Beziehung zu ihrer gehörlosen Oma ist sehr eng, sie verbrachten viel Zeit zusammen. Im Rückblick sind sie dankbar für diese Begegnung mit einer anderen Kultur, die kaum ein anderer Hörender kennenlernt.

"Für uns ist es was ganz Normales, wir sind seit Kindheit daran gewöhnt, man hat superviele nette Leute kennengelernt. Auch jetzt ist das Thema immer noch da, man hat die Sprache kennengelernt, man hat teilweise Gebärden kennengelernt, die ich leider nicht so gut kann, wie ich sie können wollte. Aber es ist sehr schön, die ganze Kultur kennengelernt zu haben."

Tobias

Vanessa

Mittlerweile sind die Kinder erwachsen. Tobias Frau ist schwanger. Und er denkt schon darüber nach, dass das eigene Kind gehörlos werden könnte. Doch Sorgen macht er sich darüber keine. Tochter Vanessa, mittlerweile selbst Mutter, sieht heute als Erwachsene ihre Mutter als Brückenbauerin: Sie hat den Kontakt zwischen der hörenden und gehörlosen Welt hergestellt. Nicht immer leicht – und doch laut Sonja so wichtig.

"Codas, die Eltern werden bzw. sind, kann ich nur den Tipp geben: Bleibt im Kontakt mit der hörenden und gehörlosen Welt, nehmt Eure Kinder mit. Sie können so viel wertvolle Erfahrungen sammeln in der Gehörlosenkultur. Es ist ein anderes Fühlen, ein anderes Sehen. Und, ja- ich glaube, ich habe alles richtiggemacht. Wenn ich meine beiden Kinder heute als Erwachsene sehe und sie beobachte, finde ich, dass sie einen tollen Charakter haben. Ich vermute, dass ihre gehörlose Oma und der viele Kontakt zu Gehörlosen, aber auch der Zugang zur hörenden Welt sie geprägt haben. Das war schön."

Sonja

Als Sonjas Mutter im Jahr 2014 stirbt, verändert sich ihre Beziehung zur Gehörlosenwelt. Ab und zu dolmetscht Sonja zwar noch, aber zu Gehörlosenveranstaltungen beispielsweise geht sie alleine nicht mehr. Doch es fehlt ihr. Denn es ist ihre Welt – in der sie sich frei fühlt.


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