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Was tun im Notfall? Neue Entwicklungen im Notruf

Schnell eine Textnachricht an Bekannte und Freunde schicken, damit diese einen Notruf absetzen. - Gehörlose haben bislang kaum eine andere Möglichkeit Hilfe zu rufen, wenn etwas passiert ist. Dabei ist Deutschland gesetzlich verpflichtet, Menschen mit Hör- und Sprachbehinderung einen gleichwertigen Zugang zu Notrufdiensten sicher zu stellen. Ab Sommer ändert sich das – mit der neuen Notruf-App "Nora".

Stand: 28.05.2021

Ein Autounfall. Jemand ist schwer verletzt. Oder der eigene Partner hat einen Herzinfarkt. Es gibt Situationen, in denen jede Minute zählt.

Gehörlose und taubblinde Menschen müssen - wie Hörende auch - problemlos einen Notruf absetzen zu können. Private Notruf-Anbieter gibt es bereits, ein barrierefreies staatliches Notrufsystem nicht, obwohl sich Deutschland dazu vertraglich verpflichtet hatte.

Das barrierefreie staatliche Notrufsystem "Nora"

Sehen statt Hören-Moderatorin Iris Meinhardt

"Nora", die Notruf-App des Bundes, soll dies ändern. Aktuell laufen Anwendertests. Mitte des Sommers soll "Nora" einsatzbereit sein.

Sehen statt Hören-Moderatorin Iris Meinhardt durfte "Nora" schon jetzt testen: Mit einem Klick ermittelt das Smartphone den aktuellen Standort.

Menü der Notruf-App "Nora"

Im Freien auf drei Meter genau und in Gebäuden standortgenau. Die Notruf-App führt dann durch das Menü: Man kann zwischen "Polizei-Notfall", "Unfall", "Feuer", "Medizinischer Notfall" und einem Feld, das sonstige Notfälle abdeckt, auswählen. Im nächsten und übernächsten Schritt wird auf diese Weise weiter abgefragt, wer betroffen ist und um was es sich handelt. Dann geht der Notruf automatisch bei der geografisch zuständigen Leitstelle ein.

Die "Nora"-App hat also folgende Vorteile: Unterwegs wird per GPS der Standort ermittelt und das übersichtliche Menü ist einfach zu bedienen.

Die Nachteile: Gebärdensprache kann nicht genutzt werden und die App ist nicht europaweit anwendbar, sondern nur in Deutschland.

"Mit dem Zwischenergebnis von 'Nora' sind auch wir noch nicht zufrieden. Die Möglichkeit über Videochat zu gebärden fehlt. Hörende können über das Telefonat Fragen klären und das Gespräch kann sie beruhigen, das ist gut. Eine vergleichbare Gebärdensprachanwendung fehlt. Nur Textnachrichten sind möglich. Viele gehörlose Menschen haben damit aber Schwierigkeiten."

Daniel Büter vom Deutschen Gehörlosenbund

Deshalb wird der Deutsche Gehörlosenbund nun Möglichkeiten prüfen, um auch auf EU-Ebene ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.

Privater Anbieter in Notfällen: Tess

Tess bietet die Möglichkeit über die Nummern 110/112 einen Notruf in Gebärdensprache abzusetzen – kostenfrei.

"Die Hilfe von Tess beginnt ja damit, dass man eben den Notruf über unsere Dolmetschdienste absetzt, also über die Dolmetschdienste die 110 oder die 112 anruft. Damit beginnt die Unterstützung von Tess beim Notruf. Und wir sind dann im Grunde genommen mit der Polizei, wenn die im Einsatz ist, oder der Feuerwehr oder dem Rettungsdienstwagen, sind wir mit denen im Einsatz. Und dann halt auch noch da, um eine Situation zu dolmetschen, die vor Ort gedolmetscht werden muss im Notrufeinsatz. Dann kann man Tess auch nutzen, um eben Hilfe zu bekommen in der Kommunikation mit dem Arzt am Unfallort oder mit der Polizei oder der Feuerwehr und unser Einsatz endet dort, wo auch der Rettungseinsatz endet. Dann kann Tess auch nicht mehr dafür genutzt werden, wenn Bedarf ist an Kommunikation."

Sabine Broweleit, Geschäftsführerin der Firma Tess

Bayerisches Projekt für Notfälle

In Bayern gibt es noch ein besonderes Projekt, die "Notfallbereitschaft". Nicht der Notruf selbst kann darüber abgesetzt werden - aber Gehörlose können zum Notfall eine gebärdensprachliche Kommunikation schnell und unkompliziert hinzuholen.

"Wenn ich Polizei, Feuerwehr oder den Rettungswagen benötige, können diese meist keine Gebärdensprache. Dann braucht es Kommunikation. Genau hier greift die Notfallbereitschaft, über die ich Dolmetschende bestellen und so kommunizieren kann. Diese kommen entweder vor Ort oder sie «ferndolmetschen» über Videotelefonie. Wichtig ist: das Projekt gilt nur in Bayern. Und zwar in der Zeit von siebzehn Uhr bis zum nächsten Morgen um acht Uhr. Das gilt unter der Woche. Am Wochenende wird sie rund um die Uhr angeboten."

Bernd Schneider, Vorsitzender Landesverband Bayern der Gehörlosen e.V.

In Bayern kommen die Dolmetschenden der Notfallbereitschaft auch nachts ins Krankenhaus, wenn etwa eine Not-OP ansteht und ein Arztgespräch dazu geführt werden muss.

Finanziert wird das durch das bayerische Sozialministerium und durch die Projektförderung der Krankenkassen. Sie zahlen jeweils die Hälfte.

Die Dolmetschenden machen das ehrenamtlich, für die nächtliche Bereitschaft bekommen sie eine Aufwandsentschädigung. Für die gehörlosen Menschen sind sowohl die Telefonate als auch der Dolmetscheinsatz kostenfrei.  

Für Nofälle außerhalb Bayerns

"Es ist wichtig, dass jeder gehörlose Mensch weiß, Krankenhäuser kennen die Lebenswelt von Gehörlosen nicht. Das heißt, man sollte selbst das Krankenhaus mit Hintergrundinformationen versorgen. Informationsblätter für Krankenhäuser und eine Dolmetscherliste können beispielsweise ausgedruckt und mitgebracht werden. Auf der Homepage des Deutschen Gehörlosenbundes können diese runtergeladen werden, um im Notfall vorbereitet zu sein. Wichtig ist auch, das Krankenhaus darüber zu informieren, dass nicht sie für den Dolmetscheinsatz aufkommen müssen, sondern die Krankenkassen."

Dr. Ulrike Gotthardt, Bereichsleitende Oberärztin Gehörlosenambulanz, LWL-Klinik Lengerich


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