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#MusicMeToo "Rock 'n' Roll heißt nicht, die Grenzen von anderen Menschen missachten zu können"

Unter #DeutschrapMeToo wurden Erfahrungsberichte sexualisierter Gewalt auf Instagram geteilt. Nach den Vorwürfen gegen Till Lindemann von Rammstein haben sich die Aktivistinnen nun mit weiteren Initiativen verbündet, zu #MusicMeToo. Die Plattform will die Branche verändern.

Von: Paula Lochte

Stand: 23.06.2023

ARCHIV - 18.06.2022, Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf: Till Lindemann, Frontsänger von Rammstein, steht während eines Deutschland-Konzerts auf der Bühne. (zu dpa «Kiepenheuer & Witsch beendet Zusammenarbeit mit Till Lindemann») Foto: Malte Krudewig/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ | Bild: dpa-Bildfunk/Malte Krudewig

Endlich sprechen wir über das, was alle wissen: "Von 'Fuck Lines' höre ich schon die ganze Zeit. Und dass Leute cruisen gehen, um irgendwelche 14-Jährigen aufzugabeln auf Konzerten und die dann beim Nightliner einzureihen, was erst dann ein Problem wird, wenn dann aus Versehen die Tochter dasteht von jemandem vom Festival – das wissen alle. Das ist nichts Neues", sagt Mirca Lotz. Neu ist nur, dass darüber gesprochen wird: über sexuelle Übergriffe, Machtmissbrauch und junge Fans, die sich in einer „Fuck Line“ am Tourbus einreihen sollen, dabei wollten sie nur ihr Idol kennenlernen.

Mirca ist Teil der am Montag gestarteten Plattform #MusicMeToo. Und kriegt gerade so viele Anfragen aus der Medien- und Musikbranche, dass sie nur noch in ihrer Mittagspause Zeit für ein Interview hat. Was will und kann #MusicMeToo gegen diese Missstände in der Konzert- und Musikbranche ausrichten? "Ein Teil ist, ganz klar zu zeigen, wie groß das Ausmaß ist. Das ist einfach super wichtig, um nicht immer nur über 'Einzelfälle' zu sprechen. Es sind nicht nur einzelne Taten und Täter – sondern tief verwurzelte Strukturen", erklärt Mirca.

Ein ekelhaftes System

"Music Me Too" ermöglicht es Betroffenen, ihre Erlebnisse online öffentlich zu machen – und zwar im Schutz der Anonymität. Es sind verstörende Berichte. Von Fans, aber auch von Menschen, die auf Konzerten arbeiten. Wie dieser Bericht einer Rettungssanitäterin: "Es sind nicht nur die Künstler oder Musiker selbst, sondern auch die ganzen Enabler drumherum, die Booker, die Organisatoren, die Mitarbeiter, die eine Atmosphäre schaffen, in der sexuelle Übergriffe toleriert werden." Der Leiter eines Rettungsdienstleisters, der auch große Rap-Konzerte betreue, habe ihr mal geschrieben, „dass er gerne seinen Finger in meine Muschi stecken möchte." Einfach so, während einer Arbeitskonversation. "Meine Chefin hat dazu gemeint, dass das ja okay ist, dass das halt Männer sind."

Berichte wie dieser verdeutlichen: Wir müssen uns auf klare Grenzen verständigen. Hier können Awareness-Konzepte ansetzen, sagt Mirca Lotz. Damit hat sie langjährige Erfahrung. Die Agentur Safe The Dance, für die sie arbeitet und die auch Teil des Bündnisses #MusicMeToo ist, bietet unter anderem Awareness-Konzepte für Konzerte an.

Warum wir hinschauen müssen

Die meisten denken da vielleicht an Leute in bunten Warnwesten, auf denen "Awareness" steht, und die Hilfe bieten bei Übergriffen und Diskriminierung. Die Arbeit fängt aber nicht erst auf dem Konzert selbst an. Zunächst müssen der Auftraggeber und sein Team sich gemeinsam mit den Awareness-Profis auf klare Regeln einigen, wie Mirca Lotz erklärt: "Haben wir eine Zero-Tolerance-Policy zum Beispiel? Wenn also jemand kommt, der sagt: 'Ich fühle mich unwohl und das war für mich ein Übergriff' – reicht das aus, um eine Person entfernen zu lassen vom Gelände? Oder arbeiten wir mit Verwarnungen? Und wo ist meine rote Linie? Worüber viele auch nicht nachdenken ist, dass Awareness natürlich genauso fürs Team gilt. Und auch für alle Künstler*innen, die vor Ort sind."

Klingt utopisch? Weil Künstler, die Stadien füllen, dann gar nicht erst kommen? Im Jahr 2010 sollen Vertreter von Rammstein Medienberichten zufolge die Organisatoren eines kanadischen Festivals gebeten haben, Kontakt zu jungen Frauen herzustellen. Und die – hätten empört abgelehnt. Rammstein spielte trotzdem auf dem Festival.

Ein Netzwerk aus Mittätern

Den Mund aufmachen, das fordert der deutsche Veranstalter Berthold Seliger deshalb auch von den Spitzen der hiesigen Branche. Im Podcast "Berliner & Pfannkuchen" vom Tagesspiegel sagte er kürzlich: "Was ist mit dem Agenten? Was ist mit den Tourveranstaltern? Was ist mit den örtlichen Veranstaltern? Was ist übrigens auch mit der Presse, die ja auch bei Backstage-Partys dabei ist? Was ist mit den beteiligten Plattenfirmen? Also ich erwarte und verlange von all diesen Beteiligten, dass sie Farbe bekennen. Das ist eine Aufforderung an alle Beteiligten, dieses Gesetz des Schweigens zu brechen."

#MusicMeToo will auch die Politik in die Pflicht nehmen. Eine Forderung: Öffentliche Fördertöpfe und Räume für Konzerte darf nur nutzen, wer ein Präventionskonzept vorlegt. Denn davon haben am Ende alle was, meint Mirca Lotz. Jedenfalls müsse niemand Angst haben, dass mit den neuen Regeln der gute alte Rock 'n' Roll kaputt geht: "Also wenn Rock 'n' Roll ist, dass ich die Grenzen von anderen Menschen missachten kann, dann feiere ich das Ende vom Rock 'n' Roll! Was wir aber eigentlich feiern wollen, ist ja das Ende von Ungleichheit und gewachsenen Machtstrukturen. Was wir eigentlich wollen, ist gleiche Chancen für alle."