Bayern 2 - Zündfunk

Pazifisten im Nahostkonflikt "Wir schauen gerade ins Tor zur Hölle"

Israelische Raver wurden von der Hamas massakriert. Darunter Links-liberale, Pazifisten, Hedonisten, kritisch Engagierte gegen ihre Regierung. Ihre Angehörigen werden nun als Reservisten eingezogen. Regierungskritische Israelis, die gleichzeitig das Existenzrecht Israels verteidigen? Eine junge Israelin erklärt, wie komplex das ist.

Von: Laura Selz

Stand: 09.10.2023

Israelische FestivalbesucherInnen fliehen vor Hamas-Terroristen  | Bild: Youtube Screenshot

Ein Elektro-Festival in der israelischen Wüste endet in einem Massaker - überfallen von Hamas-Terroristen. Wer waren die Opfer? Links-liberale. Hedonisten. Kritisch engagiert gegen ihre Regierung. Und so wie hier auf die Fusion gefahren wird, um Utopien zu tanzen, so wollten auch diese jungen Israelis zwischendurch ein bisschen abschalten. Eine kurze Pause machen, bevor sie wieder gegen hohe Mieten, für ein besseres Gesundheitssystem, gegen den Rechtsruck, den Siedlungsbau und die katastrophale Innenpolitik auf die Straße gehen. Und sich ansonsten in zivilen Friedensgruppen engagieren – die sowohl von der palästinensischen Führung als auch von der israelischen Regierung immer stärker drangsaliert werden.

Jetzt aber ist erstmal Blutspenden angesagt – dann werden viele von ihnen in den kommenden Tagen als Reservisten eingezogen. Hippies, die zur Waffe greifen? Regierungskritische Israelis, die gleichzeitig das Existenzrecht Israels verteidigen? Das wird bei uns oft als Dissonanz begriffen. Dani ist eine junge Künstlerin, die Freunde auf dem Festival verloren hat. Wir haben sie gefragt, wie wir uns ihre Welt vorstellen können. Das Protokoll gibt ihre persönliche Meinung wieder:

"Unsere Werte werden als Schwäche gesehen"

„Wir sind alle sehr geschockt, das hat uns kalt erwischt. Was passiert ist, war ein Angriff auf unsere Werte. Wir wollen Frieden. Wir geben uns Mühe, einen Ort zu schaffen, an dem man leben kann. Von uns geht keine Gefahr aus. Aber viele von uns haben fast vergessen, wo wir leben. Wir haben es verdrängt. Wir wollen so gerne vom Westen anerkannt werden und wollen nichts mehr mit Krieg zu tun haben. Aber wir haben vergessen, dass wir im Nahen Osten leben. Und im Nahen Osten herrscht ein anderer Ton.

Unsere Bemühungen werden nicht gesehen, unser Engagement in Friedensgruppen und Friedensgesprächen wird nicht gesehen. Und die Hamas sieht unsere Werte als Schwäche. Sie benutzt unsere Werte gegen uns und so stehen wir heute da. Ich selbst war in zahlreichen Projekten engagiert, zum Beispiel in israelisch-palästinensische Theatergruppen. Ich war immer der Meinung, dass es wichtig ist, auch selbstkritisch zu sein. Nicht nur ich, ganz viele junge Israelis sind selbstkritisch und vor allem Regierungskritisch. Auch innerhalb des Militärs gibt es Selbstkritik. Und es gibt Codes, wie etwa: „Don‘t shoot until you’re shot at.“

"Wir schauen gerade ins Tor zur Hölle"

Dieses Wochenende ist unsere kleine, politisch korrekte Blase geplatzt. Wir hatten dieses westliche Mindset, so wie ihr, dass Dinge wie Krieg nicht mehr existieren müssen. Dass wir alle Frieden und Ruhe wollen. Glaub mir, fast alle meine FreundInnen haben eine posttraumatische Belastungsstörung nach ihrem Militärdienst gehabt (Anmerkung der Redaktion: Der Militär- und damit Kriegsdienst ist für alle Israelis ab 17 Jahren verpflichtend, mit Ausnahme der Orthodoxen.) Niemand will noch etwas damit zu tun haben. Wir wollen uns auf unser Leben konzentrieren. Aber wir leben in einer schlechten Nachbarschaft. Wir dürfen die Probleme im Gaza-Streifen nicht isoliert betrachten, sondern müssen sie im Kontext eines weltweiten Problems sehen. Denen geht es doch gar nicht um palästinensische Menschen. Das ist Propaganda. Es geht auch nicht um Israel gegen Palästina. Hamas, ISIS, der islamistische Dschihad und die iranische Regierung sind für mich alles das Gleiche. Wir schauen gerade ins Tor zur Hölle.

Nach dem Massaker waren wir alle geschockt. Meine Familie lebt im Süden, in Ashkelon, das derzeit ununterbrochen bombardiert wird. Seit Tagen sind sie im Bunker. Ich war zum Zeitpunkt des Überfalls im Norden, wo ich derzeit bei Freunden bleibe. Wir sind fix und fertig und niemand, der nicht hier lebt, kann das verstehen. Niemand versteht, was für ein winzig kleines Land Israel ist. Und wie jeder von uns betroffen ist, weil jeder jemanden kennt der ermordet oder verschleppt wurde. Ich sitze gerade neben einer Freundin und wir kriegen Nachrichten, dass Freunde von uns tot aufgefunden wurden. Und wir sind erleichtert, dass sie tot sind – und nicht verschleppt wurden. Das ist so fucked up, so krass. Aber zu hören, dass deine Freunde tot und nicht in Geiselhaft sind, ist die bessere Nachricht.

Wir sind heute alle sehr geschockt – aber Ereignisse wie diese schweißen uns auch zusammen. Wir stehen uns selbst bei. Unsere Demos der letzten 40 Wochen haben gezeigt, wie stark die Zivilbevölkerung ist. Netanjahu und seine Leute sind nicht in der Lage, irgendetwas zu regeln. Und niemand von denen hat richtigen Militärdienst geleistet, sie wissen gar nicht, was das heißt. Jetzt, wo alles eskaliert, gibt es kaum noch einen Israeli, der sich nicht für seine Regierung schämt.

Es ist eine riesige Dissonanz: Eine friedliebende Person zu sein, die aber willens ist, zu den Waffen zu greifen, wenn es sein muss. Gestern saß ich mit meinen FreundInnen zusammen, fast alle Hippies. Wir sprachen von unserer Utopie, wovon wir träumen. Bis dann einer meinte, Dude, die Realität hat sich geändert. Die Hamas will den Dschihad. Wir sind im Krieg."