Bayern 2 - Zeit für Bayern


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Bayern genießen Kern(e) - Bayern genießen im Oktober

Kerne gelten von altersher als Grüße Gottes. Seit Jahrtausenden stehen sie für die Fruchtbarkeit, die aus dem Himmel kommt – je mehr Kerne eine Frucht hat, desto besser.

Von: Gerald Huber

Stand: 05.10.2023 | Archiv

Unsere Genuss-Themen aus den bayerischen Regionen rund ums Motto "Kern(e)"

Kernkompetenz. Die Minderleinsmühle im mittelfränkischen Kalchreuth
Körndlgefüttert. Was das Vieh im Rottal mag
Kernbohrung. Ausflug zum tiefsten Loch der Welt in der Oberpfalz
Stadtkern. Die kleinste Stadt Bayerns in Oberfranken
Tauschkerne. Die Samentauschbox der IG Oma im Allgäu
Kernerarbeit. Kerner-Weinlese im mainfränkischen Escherndorf
Kerniger Trunk. Auf dem Winhöringer Mostfest

Kernkompetenz: Die Minderleinsmühle im mittelfränkischen Kalchreuth
Vermutlich schon seit der Mittelsteinzeit wird bei uns Getreide angebaut. Archäologen haben im Haspelmoor zwischen München und Augsburg rund 9000 Jahre alte kultivierte Gerstenkörner gefunden. Gerste das erste Getreide? Kein Zufall! Es war nämlich das Bier und nicht das Brot, weswegen die Menschen sesshaft geworden sind. Erst danach hat sich im Lauf der Zeit die ganze landwirtschaftliche Vielfalt entwickelt und der Mensch ist draufgekommen, welche Körner- und Kernvielfalt es gibt, und was man damit alles machen kann. Und auch schon unsere Wörter Korn und Kern stammen aus diesen frühen Zeiten der Landwirtschaft, wobei das Wort Kern von Korn kommt. In Bayern heißt ja ein Korn heute noch Kerndl. In den Wörtern steckt die uralte Wortwurzel cer-, die soviel bedeutet wie fest, aufrecht, stehend, aufgewachsen. Die Wurzel steckt auch im griechischen Fremdwort Keramik, die im Feuer fest wird, im starken Kerl, beziehungsweise seinem aufrechtstehenden kleinen Bruder, im Kren, dem hochdeutschen Wort für Meerrettich, im lateinischen Erbwort Kerker, dessen festen Mauern man nicht entrinnen kann, aber auch in der Kirsche, die auf Bairisch Kersch heißt, weil sie von griechisch kerasinos, die Kernfrucht kommt. Aber auch die Hirse, jahrtausendelang eine der wichtigsten Nahrungsgetreidesorten, hat sich aus dem indoeuropäischen kersio entwickelt. Die Wortliste kann man noch ewig weiterführen. Nahezu in jeder europäischen Sprache finden sich einschlägige Wörter, die alle zweierlei beinhalten: Das fruchtbar und das hart sein: Harte Schale, nahrhafter Kern. Um dadran zu kommen, haben die Menschen zuallererst ihr Gebiss benutzt, um Nüsse zu knacken oder Wildgetreidekörner mit den Zähnen zu zermahlen. Will man allerdings Bier brauen oder Brot backen, kommt man mit den Zähnen nicht weit. Da haben die Frauen Körner und Kerne auf Mahlsteinen zerrieben, wie es heute noch in traditionellen Gesellschaften praktiziert wird. Später hat man sich die mühsame Arbeit vom Wind oder vom fließenden Wasser abnehmen lassen. Schon die Römer kannten Wassermühlen. Im Stadtmuseum Ingolstadt können sie eine solche besichtigen. Im Mittelalter dann wurden die Mühlen perfektioniert, so dass sie fast schon so funktioniert haben, wie unsere heutigen Kunstmühlen. Zum Beispiel die rund 250 Jahre alte fränkische Minderleinsmühle… Übrigens auch mahlen, lateinisch molare, griechisch myllein, wo man ja schon den Müller durchhört, gehen auf eine gemeinsame indoeuropäische Wortwurzel ml-zurück. Ein lautmalerisches Wort. Wer Körndl mit den Zähnen mahlt, der macht so: mllm, eben. Heute allerdings wissen wir um die Gefahren für unsere Zähne und überlassen das Mahlen lieber den Mühlen.

Körndlgefüttert. Was das Vieh im Rottal mag
Cer-,
wie erwähnt, heißt die steinzeitliche Wortwurzel, die im Korn und den Kernen steckt und in vielen weiteren Wörtern vieler Sprachen. Und es ist schwer zu beschreiben, was sie alles bedeutet. Wachsen natürlich. Auf Lateinisch heißt das crescere. Und weil das Resultat nahrhaft ist, bedeutet es auch nähren, sättigen. Und selbstverständlich kommt auch der Name der römischen Unterwelt-, Fruchtbarkeits- und Ackerbaugöttin Keres oder Ceres daher. Und sie kennen aus dem Asterix alle den römischen Namen für Bier: Cer-visia. Wörtlich heißt das: Kraft der Ceres. Ich find, schöner kann man Bier nicht heißen. Kraft der Ceres, Kraft des Ackers. Und kraftvoll fruchtbare Äcker hat Bayern, besonders Niederbayern reichlich. Entlang der vielen Flüsse hat sich in der Eiszeit der berühmte Löss angesammelt, der beste Ackerboden überhaupt. Besonders natürlich an der Donau, wo im Gäuboden, wies heißt, die Bauern bloß das Säen nicht vergessen dürfen. Aber auch an den Unterläufen vieler anderer kleiner und großer Flüsse, besonders am Lech, an der Isar, am Inn gibt’s gute Lössböden. Weswegen Niederbayern schon immer als Getreidekammer Bayerns gegolten hat. Kartoffeln sind hier erst spät eingeführt worden. Weswegen man sagt, der Niederbayer isst Erdäpfel bloß dann, wenns vorher eine Sau gefressen hat. Vorher war Getreide hier alles. Und weil man den vielen Weizen, Roggen, Hafer, Gerste und dergleichen in Niederbayern nicht hat essen können oder wollen, hat man es über den Umweg von Schweinen, Hühnern oder anderem Vieh verzehrt. Das war dann besonders gut, gesund, weil nahrhaft aufgewachsen, kerndlgfuadert eben. Wie auf dem Weiß’n Hof in Simbach am Inn.

Kernbohrung: Ausflug zum tiefsten Loch der Welt in der Oberpfalz
Auch die menschliche Kreativität und das Lebewesen, die Kreatur haben mit der Wortwurzel cer- zu tun. Lateinisch creare heißt erschaffen, zeugen, erzeugen, ins Leben rufen, ernennen. Der Knabe heißt bei den Griechen koros, also eigentlich der Gezeugte. Das Mädchen entsprechend kore. Kore war auch der andere Name der jungfräulichen Unterweltgöttin Persephone. Sie war die Tochter und das alter ego der Ackerbaugöttin Demeter, die bei den Römern Ceres heißt. Alljährlich, wenn sie zu ihrem Gemahl dem Unterweltgott in den Hades hinabstieg, wurde Winter. Und Frühling erst, wenn sie wieder heraufkam. Danach herrschte sie das Jahr über quasi als ihre eigene Mutter über die Fruchtbarkeit der Erde, bevor sie im Herbst als Tochter wieder in die Unterwelt hinabstieg. Die Unterwelt ist dunkel. Was sich da drunten abspielt, kann man nicht sehen. Ganz im Gegenteil zur sternglänzenden Himmelswelt. Deswegen sind die Götter im Himmel ja auch viel mehr als die unter der Erde. Ist einfach interessanter. Und in Windischeschenbach in der Oberpfalz, wo seit knapp dreißig Jahren das tiefste Loch der Welt ist, leidet man ein bisserl drunter, dass sich viel mehr Leute dafür interessieren, wenn jemand auf dem Mond landet als für ihr Loch, wo sie immerhin über neun Kilometer in Richtung Erdkern hinabgebohrt haben, bis dahin, wos nimmer weitergeht, weil die Erde flüssig wird und der Bohrer bloß noch umrührt. Noch heute wird geforscht am Bohrloch, weil die wissenschaftliche Kreativität immer wieder neue Experimente findet, die man damit anstellen kann. Ansonsten ist das tiefste Bohrloch der Erde natürlich ein Tourismusmagnet, wo man viel darüber erfahren kann, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Stadtkern: Die kleinste Stadt Bayerns in Oberfranken
Wie existentiell die Unterwelt für die ersten Bauerngesellschaft war, das zeigt sich auch an den Namen des Gatten der Demeter/Ceres: Im Griechischen war der zweite Name des Unterweltgottes Hades Plouton, also Reichtum. Und so heißt er auch im Lateinischen: Pluto. Aber auch hier hat er einen zweiten Namen: Saturn. Und in darin steckt die uralte Wurzel für gleich zweierlei Wörter, die es im Deutschen gibt: Die Saat und satt. Die Saat ist ja die Voraussetzung fürs Sattwerden. Dafür sorgt Saturn. Lateinisch saturare heißt sättigen. Dass es viele saturierte Leute, also allzeit genug zum Essen gibt, ist, wie wir wissen, weltweit nicht unbedingt selbstverständlich und war es auch bei uns in Mitteleuropa selbst noch im 20. Jahrhundert nicht immer. Wenn man noch weiter in die Vergangenheit zurückgeht, haben sich immer magere und satte Zeiten abgelöst. Generell kann man sagen, dass die Zeiten, in denen das Klima wärmer war, immer auch satte Zeiten waren. Warmzeiten und kleine Eiszeiten hats immer wieder gegeben. Zum Beispiel im Hohen Mittelalter zwischen 900 und 1400 nach Christus, da wars so warm, dass das heute eisige Grönland seinen Namen bekam: Grünland. Das hatte enorme Auswirkungen auf die europäische Zivilisation. Das Land konnte mehr Leute ernähren, die Bauern kriegten mehr Kinder durch und der Bevölkerungsüberschuss musste abwandern. Sie gründeten überall Städte. Nahezu die gesamte Landschaft der bayerischen Städte und Märkte geht auf diese Zeit zurück: München, Landshut, Nürnberg, Würzburg. Die Vorläufersiedlungen waren überall kleine Dörfer, Handwerk, Handel und Wandel, brachten Geld und so wuchsen sie langsam zu großen, reichen Städten heran. Und der Stadtbewohner war ein neuer Typ Mensch. Kein bäuerlicher vom Landesherrn abhängiger Untertan mehr, sondern ein freier selbstbewusster Bürger, der sich selbst regiert und verteidigt hat. Manche der Städte sind im Lauf der Zeit über die Maßen groß geworden. Andere sind kleine Marktflecken oder Kleinststädte geblieben. So wie Betzenstein in Oberfranken. Das rühmt sich, in ihrem historischen Kern die kleinste Stadt Bayerns zu sein.

Tauschkerne: Die Samentauschbox der IG Oma im Allgäu
Das Samenkorn, das unter die Erde und sterben muss, damit es Frucht bringt, das war schon seit der Steinzeit, weit vor Jesus von Nazareth, der es mit seinem Gleichnis berühmt gemacht hat, gängiges kulturelles Wissen. Selbstverständlich tritt Demeter/Persephone, die antike Totengöttin, Unterweltsherrscherin, Fruchtbarkeitsgöttin mit einem Büschel Getreideähren auf. Und bis heute liegen in der Höhle im Zentrum ihres Hauptheiligtums in Eleusis bei Athen, wo man den Eingang zur Unterwelt verortet hat, noch immer und immer wieder frische Getreideähren und – Granatäpfel. Körner also und Kerne, von denen ein Granatapfel besonders viele besitzt, weswegen er der Persephone heilig war. Diesbezüglich übrigens hat ihr Erbe die Gottesmutter Maria angetreten. Auch sie wird häufig mit einem Granatapfel dargestellt. Wie Demeter/Persephone und viele andere antike Göttinnen ist auch Maria eine jungfräuliche Mutter. Eine Vorstellung, die alten Gesellschaften ganz einfach als Bild dafür gedient hat, wie wunderbar im Wortsinn das Leben ist. Jeder meint heute zu wissen, wie Kinder gemacht werden. Und doch kann keiner von uns wirklich Kinder machen. Nicht einmal eine einzelne Blüte oder den simpelsten Grashalm können wir machen. Das weiß niemand besser, als das Wunder einmal beobachtet hat, wie aus einem kleinen Samen eine Riesenpflanze wird. Dumme rennen, Kluge warten, Weise gehen in den Garten hat es der indische Dichterphilosoph Tagore formuliert. Der Garten, das Sähen, Wachsen und Ernten ist nicht nur ein Symbol für das Leben. Er ist das Leben schlechthin. Und damit der Garten richtig abwechslungsreich wird, gibt es Samentauschorganisationen wie die Samentauschbox der IG Oma im allgäuischen Waltenhofen-Oberdorf.

Kernerarbeit. Kerner-Weinlese im mainfränkischen Escherndorf
Der Sohn, den die Unterweltgöttin Persephone jeden Frühling aus ihrer Höhle ans Licht bringt, heißt Dionysos, ein Wort, das soviel bedeutet wie Gottessohn. Er ist der Gott des frohen, genussvollen Lebens und damit auch der alkoholhaltigen Getränke, die auch im Mittelpunkt seines Kults gestanden haben. Dass der lateinische Name des Biers, ker- oder cer-visia, nichts anderes bedeutet als Kraft der Ceres, also Getreidekraft, hab ich ja schon gesagt. Der Wein aber ist noch älter als das steinzeitliche Wort für Bier. Das zeigt sich daran, dass es das Wort nicht bloß in den sogenannten indoeuropäischen Sprachen gibt, sondern viel weiter gebräuchlich ist, zum Beispiel auch im Arabischen oder Äthiopischen als wain und selbst die alten Assyrer das Wort schon gekannt haben. Den Rausch, der aus vergorenen Früchten besteht, haben die Menschen schon immer geschätzt und selbst wilde Tiere berauschen sich, wie wir wissen, liebend gern an gärenden Früchten. Jahrhunderttausende alt also wird er sein, der Wein. Und doch immer wieder neu. Weils immer wieder neue Trauben gibt. Zu einer der jüngsten gehört der Kerner in Bayerns Weinland Mainfranken.

Kerniger Trunk. Auf dem Winhöringer Mostfest
Nochmal zurück zum hochmittelalterlichen Klimaoptimum, in dem Bayerns Städte entstanden sind und auch auf dem Land eitel Sonnenschein war. Da gedieh auch in Altbayern der Wein, dens hier seit der Römerzeit gegeben hat, besonders prächtig. Heut gibt’s davon bloß noch kleine Reste um Regensburg herum. Aber besonders die niedrigeren Regionen Bayerns am Unterlauf der Flüsse brachten hervorragenden Wein, der bis in die Neuzeit geschätzt worden ist. Bis zu Anfang des 19. Jahrhunderts eine besonders intensive Kälteperiode im Rahmen der Kleinen Eiszeit zusammen mit der Reblaus dem Bayerwein den Garaus gemacht hat. Danach haben die Weinzierl, so wie die Winzer in Altbayern geheißen haben, häufig umgesattelt auf Obstanbau. Wie heute noch am Bodensee, waren Weingegenden immer schon auch gute Obstgegenden. Und Äpfel und Birnen werden halt früher reif als Weintrauben. Und auch aus ihnen kann man Wein machen, Obstwein. In ganz Europa geschätzt. In der Normandie heißt er Cidre, dort wird er süßer ausgebaut als der Ebbelwoi in Hessen oder der süddeutsche Most. Sein Name stammt von lateinisch mustum = gärendes Getränk. Most, der sortenrein aus Äpfeln oder Birnen oder auch gemischt gemacht werden kann, ist bis heute Leib- und Magengetränk von vielen im östlichen Bayern und im angrenzenden Österreich, wo sogar eine Gegend danach benannt ist, das Mostviertel. Und gerade in letzter Zeit wird der Most als alkoholärmere Alternative zum Weintraubenwein wiederentdeckt. Wer ihn probieren will, kann das auf Mostfesten tun. Zum Beispiel im ostoberbayerischen, wo allerdings das Mostfest schon vorbei ist. In Anger im Chiemgau oder beim Obst- und Bauernmarkt in Lalling im Bayerischen Wald gibt’s aber noch Feste im Oktober.

Jetzt haben wir die ganze Zeit von der uralten Wachstumswortwurzel cer- gesprochen, die sprossen, aufrechtstehen, festsein bedeutet. Unser Wort wachsen allerdings geht in die gleiche Richtung. Das Wachs zum Beispiel ist im Gegensatz zum flüssigen Honig der feste Bestandteil einer Honigwabe. Und natürlich sprosst alles, was wächst stark und fest nach oben. Wird’s dann abgemäht, dann bleiben Stoppeln oder Stopseln zurück. Und wenn man da barfuß drübergeht, dann kann es wehtun, genauso wie bei spitzen Steinen. Und dazu sagt man: Es ist wachs. Mit hellem a wie in Radio. Ein Wort, das es wiederzuentdecken gilt, wie das Barfußgehen…


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