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Das Thema Ödipus als Ur-Mythos

Stand: 08.09.2010 | Archiv

Das Interessante an dem Mythos, der die Menschheit seit jeher fasziniert und inspiriert, ist die Tatsache, dass sowohl die Handlung, als auch die Protagonisten als Spiegelbild der jeweiligen Epoche unterschiedlich betrachtet werden und unterschiedliche Werte symbolisieren.

Frei von Verbrechen - Ödipus im Kult der Archaik

Der Mythos des Ödipus ist ein alter Mythos aus der Zeit des vorgeschichtlichen Europas, der bereits lange vor seiner ersten schriftlichen Erwähnung als Erzählung zum traditionellen Kulturerbe gehörte. Woher der Ur-Mythos stammt, scheint ebenso ein Mysterium der Geschichte zu bleiben wie die Frage nach einem historischen Ödipus. Es scheint so, als hätte Ödipus bereits zu Zeiten matriarchalischer Kulte existiert, als der Mann noch eine recht unbedeutende Rolle in der Gesellschaft spielte. Ödipus' Verhalten hat in dieser Herrschaftsform nichts Verwerfliches an sich, sondern folgt den Regeln des Matriarchats: Der jeweilige Nachfolger des Großen Königs tötet seinen Vorgänger und tritt - sinnbildlich gesehen - als dessen Sohn in seine Fußstapfen. Es muss erst der Übergang in die Gesellschaftsform des Patriarchats stattfinden, bevor diese kultische Handlung als Verbrechen angesehen wird.

Frei von Schuld - Ödipus an der Schwelle zum Patriarchat

Der langsame Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat, in dem sich das Mächteverhältnis zwischen Frauen und Männern in der Gesellschaft umkehrt, ist auch in der Bearbeitung des Ödipus erkennbar.

Muss dieser in Homers Odyssee ca. 700 v. Chr. im Bewusstsein seiner Untat weiterhin in Theben regieren, so tut er dies, ohne sich selbst zu verstümmeln, während Iokaste im Reich der Toten weilt. Erst im 5. Jahrhundert v. Chr., in der bekannten Version des Griechen Sophokles, der den Stoff in der Trilogie Antigone, König Ödipus und Ödipus auf Kolonos verarbeitet, verstümmelt sich der tragische Held selbst und begibt sich in Verbannung. Dabei bejammert er laut sein Schicksal, nicht bereits als Säugling gestorben zu sein.

Stehen Laios und Iokaste für das Göttliche Königspaar, so wird er diesmal für die - sogar unwissentliche Tat - zur Rechenschaft gezogen, obwohl er es nicht abwenden konnte, zum Werkzeug der Götter zu werden. Seine eigentliche Schuld liegt darin, die wissende Sphinx besiegt und ihr Rätsel gelöst zu haben. Interpretiert man die Sphinx als Symbol der geflügelten Mondgöttin Thebens, macht ihn das zum Symbol des Umsturzes mutterrechtlicher Kulte. Das zweite Rätsel, das Rätsel um sich selbst, löst er zwar, doch wird ihm am Ende klar, dass dies nur Sturz und Verderben bedeutet. Er, der vor seinen vermeintlichen Eltern geflohen war, um den Fluch zu umgehen, muss am Ende die Verantwortung für seine Taten übernehmen, ohne dass sich hier die Schuldfrage auftut. Der Mensch hat letztendlich der Weisheit des Orakels und der Macht der Götter nichts entgegenzusetzen.


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