Bayern 2 - radioTexte


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Live-Mitschnitt nemo live im Lyrik Kabinett

Gedichtet, gedacht und gelöst? Anlässlich seines 15. Jubiläums fand das beliebte Bayern2-Literaturquiz von und mit Antonio Pellegrino am 21. Juni im Münchner Lyrik Kabinett statt. Wie sich die nemo-Detektive Elisabeth Tworek und Andreas Trojan sowie Gast-Detektiv und Tukan-Preisträger Fridolin Schley geschlagen haben, hören Sie im Live-Mitschnitt in den radioTexten am Dienstag.

Von: Pia Leuschner / Kirsten Böttcher

Stand: 04.07.2022

Antonio Pellegrino (links), Moderator des Abends im Lyrik Kabinett, verrät seinem prominenten Gast erstmal wenig: "Gast-Detektiv" und Tukan-Preisträger Fridolin Schley während der Aufzeichnung einer nemo-Raterunde vor engagiert mitratendem Publikum. | Bild: BR / Noel Chojnacki

Im Laufe der mittlerweile 15 Jahre, die es nemo - das literarische Ratespiel gibt, wurde nach 280 "Nemines" in 280 klassischen und zeitgenössischen Werken der Weltliteratur gefahndet - fast ein neuer Literaturkanon. Mehrere tausend Hörerinnen und Hörer haben sich am Publikumsrätsel beteiligt. Das feste Rateteam bildeten von Anfang an Elisabeth Tworek, Autorin und Leiterin der Abteilung Bildung, Kultur, Museen im Bezirk Oberbayern sowie der freie Literaturkritiker Andreas Trojan; als Joker standen dem Rate-Duo stets eine Gastermittlerin oder ein Gastermittler aus dem Kulturbereich zur Seite. Auch eine feste Stimme bei nemo: Friedrich Schloffer, der die rätselhaften Literaturzitate las.

Am 21. Juni waren sie dann alle da, nicht im BR-Studio, sondern im Münchner Lyrik Kabinett, wo bei sommerlichen Temperaturen Köpfe rauchten und Hände schwitzten. Pia-Elisabeth Leuschner, Publizistin und Presseferentin des Lyrik Kabinetts, hat persönliche Lieblingsmomente des Abends notiert:

Pia Leuschner: "Kriminalistik im Lyrik Kabinett"

Animiertes Lachen, Lächeln oder sogar Kichern, Lust an spontanen Zwischenrufen, die dann doch im letzten Moment unterdrückt werden: Diese Atmosphäre ist typisch für ein bestimmtes und seit Jahren sehr beliebtes Format: wenn nämlich nemo, das literarische Quiz des Bayerischen Rundfunks, wieder einmal live im Lyrik Kabinett stattfindet! Zwei Jahre lang hatte das Publikum dieses ebenso heitere wie anregende Ratespiel vermisst –  so herrschte von Beginn an eine Art Wiedersehens-Euphorie.

V.l.n.r.: Friedrich Schloffer, Andreas Trojan, Elisabeth Tworek, Moderator Antonio Pellegrino und Schriftsteller Fridolin Schley

Das Team der ‚festen‘ Detektive Elisabeth Tworek (Autorin und lange Jahre Leiterin des Literaturarchivs Monacensia) und der Autor und Literaturkritiker Andreas Trojan wurde diesmal von dem jungen Autor Fridolin Schley ergänzt, der in den letzten Jahren für sein Werk gleich zwei Mal mit dem Tukan-Preis wurde und sich der Fahnder-Rolle mit Verve und reichen Kenntnissen annahm. Der gewitzte Spielleiter Antonio Pellegrino, blendend gelaunt und souverän, warf eingangs einen Blick zurück auf die Geschichte des Rätsels: seit seiner Begründung durch Wilhelm E. Süskind in den 1950er Jahren und bis heute: eine Erfolgsgeschichte, die auch eine Entwicklung des allgemeinen Bildungs- und Belesenheitsniveaus der Gesellschaft spiegelt.

Dann übergab Pellegrino das Wort an Friedrich Schloffer, der nuanciert und fesselnd das erste Literaturzitat vortrug. Diese Rezitation war ihrerseits eine lang überfällige Premiere, denn Schloffers Stimme, dem Publikum aus vielen nemo-Sendungen bekannt und liebgeworden, war heuer erstmals auch live zu hören.

"Diese Leute aus der fernen Zukunft waren strenge Vegetarier"

War das erste Rätsel eine harte Nuss? Ein „utopischer Text“ – wie ihn Andreas Trojan sofort charakterisierte – mit dem typischen, von außen kommenden Ich-Erzähler und einem Sprachstil, der ihn als Übersetzung eines Originals aus dem 19. Jahrhundert erkennbar machte (Schley). Auf welche gesellschaftliche Situation bezog sich wohl die spürbare Sozialkritik dieser Schilderung einer ‚Oberwelt‘ und einer ‚Unterwelt‘-Spezies, die offenbar für die Privilegierten die Arbeit verrichtet? Die Ermittlungen waren ebenso erhellend wie differenziert, bis Fridolin Schley unter allgemeinem Beifall das Incognito lüftete – der Autor war H.G. Wells, gelesen worden war ein Ausschnitt aus seinem Roman Die Zeitmaschine (1895).

Friedrich Schloffer im Lyrik Kabinett

Mit dem nächsten Zitat führte Schloffer das Publikum in eine Ghetto-Atmosphäre, in der ein Ich-Erzähler um seine Selbsterhaltung ringt und Rettung bei der Kirche findet. Schon während der Lesung raunte und rumorte es wissend in den Reihen der Zuhörenden – Elisabeth Tworek verwandelte dann den Hinweis, der Autor sei aus den USA nach Europa emigriert, in die zielführende Frage: Wo er dann wohl gelebt habe? (Vor allem in Paris …). So dauerte es nicht lange, bis auch dieser Nemo enttarnt war: als der in Harlem geborene afroamerikanische Autor James Baldwin, dessen Roman "Nach der Flut das Feuer" 1963 die von Rassismus durchsetzte amerikanische Gesellschaft ins Mark traf.

Die vielleicht größte argumentative Virtuosität legte das Team beim dritten Zitat an den Tag. Sie bestand darin, den Autor nicht zu früh zu erraten, obwohl sowohl das Podium als auch das Publikum ihn schon sehr früh gleichsam ‚witterte‘. Für die von Schloffer plastisch evozierte Szene eines Parisier Parfümeurs, der von seinem künftigen Lehrling überrascht wird, erschloss das Detektiv-Team sehr achtsam diverse Einzelcharakteristika: etwa die stark visuelle, ‚filmische‘ Wahrnehmungsweise, das Spiel mit stilistischen und deskriptiven Elementen einer vergangenen Epoche – bis am Ende Andreas Trojan den Autor Patrick Süskind nannte, den Sohn von Wilhelm Süskind, und sich mit diesem Namen ein Kreis zum Beginn des Abends schloss. Die burleske Coda der Rätsel bildete eine von Schloffer hinreißend-suggestiv ausgekostete Grantelei über eingebildete Weinkennerschaft, horrende Kulinaria, nationale Klischees und einen ‚Niedergang Deutschlands‘, dessen Autor sich ebenfalls bald verriet: Gerhard Polt.

"Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt,
behaart und mit böser Visage.
Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt und die Welt asphaltiert und aufgestockt,
bis zur dreißigsten Etage..."

(Erich Kästner, Die Entwicklung der Menschheit)

Die beiden Publikumsrätsel boten zwischendurch den ungeduldig mitfiebernden Zuhörenden die willkommene Gelegenheit zu eigener Betätigung – und ein Mann und eine Frau aus dem Publikum ‚verhafteten‘ zielsicher Else Lasker-Schüler und Erich Kästner als die Autorin und den Autor einerseits eines stimmungsvollen Liebesgedichts und andererseits einer humorig zivilisationspessimistischen Reflexion über „Die Entwicklung der Menschheit“. Nach einer Zugabe – eines weiteren Textes von Gerhard Polt – endete der Abend in lang anhaltendem und begeistertem Applaus, mit dem der Saal Pellegrino und sein Detektiv- und Rundfunkteam feierte, und mit anregungsbeschwingten Nach-Gesprächen an Stehtischen unter freiem Himmel im Hof vor der Lyrik-Bibliothek.

Vivat nemo samt all seinen Ermöglichern, Fahndern und Helfershelfern!

Dr. Pia-Elisabeth Leuschner
Stiftung Lyrik Kabinett

Live-Mitschnitt auf Bayern 2:
Dienstag, 5. Juli um 21.00 Uhr in den radioTexten
Auch nachzuhören in unserem Podcast "Lesungen" im
Podcast-Center des BR.


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