Bayern 2 - radioTexte


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Jessica J. Lee Reise-Memoir zwischen Kanada und Taiwan

Ihr Buch ist eine Rückkehr zu den Wurzeln - auch im wörtlichen Sinn. Jessica Lee stellte auf ihrer Reise nach Taiwan fest, dass sie als Umwelthistorikerin die Familiengeschichte besser versteht, wenn sie die Landschaft, die Berge, Bäume und Pflanzen erkundet, ihre Namen lernt. So ist ihr Buch "Zwei Bäume machen einen Wald" die sensible Niederschrift eines Trauerprozesses, einer wechselvollen Familiengeschichte durch ein Jahrhundert und eines Erkundungsgangs durch die so weit entfernte Kultur, Flora und Fauna Taiwans. Gespräch mit Jessica Lee und Lesung mit Xenia Tiling

Von: Kirsten Böttcher

Stand: 18.03.2021 | Archiv

Jessica J. Lee, 1986 in Ontario, Kanada geboren, ist eine britisch-kanadisch-taiwanische Autorin, Umwelthistorikerin und Herausgeberin einer Zeitschrift, die sich mit Nature Writing beschäftigt. In ihrem neuen Buch "Zwei Bäume machen einen Wald" sucht sie nach Spuren ihres verstorbenen Großvaters in Taiwan.  | Bild: picture alliance / StockPix | Rich Dyson

"Diesmal bin ich allein gekommen. Ich bin einunddreißig und habe mir vorgenommen, drei Monate lang mein Chinesisch zu verbessern, zu schreiben, vor allem aber zu wandern. (...) Vom Stand des Straßenhändlers, der allabendlich neben dem 7-Eleven an der Ecke Stellung bezieht, weht der Geruch von choudoufu die Gasse herunter."

(Jessica J. Lee, Zwei Bäume machen einen Wald)

Alles begann mit der Entdeckung eines Briefs von Gong, dem Großvater Jessica J. Lees, der - an Alzheimer erkrankt - nur noch lückenhaft seine Lebensgeschichte aufschreiben konnte. Die heute 35-jährige Enkelin, in Kanada geboren und momentan in London an der University of Cambridge lehrend, trieb es daraufhin zurück auf die Insel Taiwan, wo sowohl ihr Großvater als auch ihre Großmutter den Großteil ihres Lebens verbrachten. Jessica J. Lees autobiografisch geprägtes Buch "Zwei Bäume machen einen Wald" erzählt von diesem Versuch, Lücken zu schließen, sich Zugang vor allem zu erwandern zu einer für sie doch so fremden Kultur.

Gedächtnis und Gestein: Taiwan erwandern

"Von der Familiengeschichte bewegte ich mich durch die grün sich entfaltende, dendrologische Zeit zu dem, was mein Fassungsvermögen bei Weitem übersteigt: die tiefe, unergründliche Spanne der geologischen Zeit. Viele meiner Tage in den Hügeln verbrachte ich zwischen Bäumen, und wenn ich aus ihnen heraustrat, fand ich mich in den Wolken wieder."

(Jessica J. Lee, Zwei Bäume machen einen Wald)

Auch am malerischen Sonne-Mond-See wandert Jessica Lee entlang - nachzulesen in ihrem poetischen Memoir "Zwei Bäume machen einen Wald".

Im Bestreben, diese zwischen tektonischen Platten und gegensätzlichen Kulturen gelegene Insel der Extreme zu erforschen, um dadurch der Kultur ihrer Ahnen näher zu kommen, legt Jessica J. Lee feinfühlig frei, inwiefern menschliche Schicksale mit geografischen Kräften zusammenhängen. Diese besondere Art der Annäherung liegt in ihrer eigenen Biografie begründet: Die Tochter eines Walisen und einer Taiwanerin hat ihren Doktor in "Environmental History and Aesthetics" abgelegt. Als Umwelthistorikerin und Autorin ist Lee fasziniert von den wechselseitigen Verbindungen zwischen Mensch und Natur, Gedächtnis und Geologie, Phänomen und Poesie. Für ihr letztes Buch "Mein Jahr im Wasser" (Piper, 2017) war sie in 52 von über 3000 Seen im Brandenburger Land gesprungen - bei jeder Witterung wohhlgemerkt - um sich ein Gefühl von Zuhause für ihre (begrenzte) Zeit in Berlin zu erschwimmen.

Nature writing, Memoir und Migrationsgeschichte

"Ich hätte mich nicht allein auf diesen Weg wagen dürfen. Das ist kein Ort, den man erlernen kann, ich jedenfalls kann es nicht. Ich gehöre in die Wälder eines viel größeren, kälteren Landes, wo man Zucker kocht und in den Schnee gießt, damit er zu Toffee wird, und ihn nicht an einem Berghang aus Schilfrohr presst. Ich spreche in falschen Tönen, mein Gegenüber kann mich nur halb verstehen. Meine Welt ist in Hälften geteilt."

(Jessica J. Lee)

Blick auf Taiwans Hauptstadt und das elfthöchste Gebäude der Welt - "Taipeh 101".

Angetrieben von dem Wunsch, zu verstehen, welche Erschütterungen ihre Familie erst von China nach Taiwan und schließlich nach Kanada führten, spürt Lee anhand dieser Insel mit ihren hohen Bergen, dem offenen Tiefland und den dicht bewachsenen Wäldern der Migrationsgeschichte ihrer Vorfahren mit all ihren Abgründen und Geheimnissen nach. Dabei lässt es sich nicht vermeiden, einen sehr kritischen Blick auf die ehemaligen Kolonialherren Taiwans zu werfen. Lee nimmt uns mit durchs Gebirge, in denen die Taiwangoldhähnchen zu Hause sind, berichtet von seltenen Vögeln und Makaken, schwimmt in zedernbedeckten Seen und zieht uns in die von Aromen und Düften geschwängerten Seitenstraßen Taipehs. Ihr Reise-Memoir ist eine melancholische Selbsterkundung, eine poetische, metaphernreiche Meditation über landschaftliche Formen und kulturelle Formungen, aber auch eine von Krieg und Migration erzählende Familiengeschichte, einmal rund um den Globus.

"Zwei Bäume machen einen Wald"

Über Gedächtnis und Migration in Taiwan

von Jessica J. Lee

Schauspielerin Xenia Tiling liest Auszüge aus Jessica Lees neuestem Buch.

herausgegeben und illustriert von Judith Schalansky in der Reihe Naturkunden Bd. 68, übersetzt von Susanne Hornfeck, erschienen bei Matthes & Seitz Berlin.

Lesung mit Xenia Tiling am 23. März um kurz nach 21.00 Uhr in den radioTexten am Dienstag auf Bayern2

Moderation und Redaktion: Antonio Pellegrino

Unsere Lesungen können Sie nachhören: auf dieser Seite im Stream, als Download im Podcast-Center des Bayerischen Rundfunks und überall, wo es Podcasts gibt.


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