Bayern 2 - radioTexte


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Christian Baumann liest Stefano Mancuso: Die unglaubliche Reise der Pflanzen

Pflanzen machen den Blauen Planeten zur grünen Insel im Weltall. Obwohl sie eigentlich festgewachsen sind, reisen sie doch überall hin, über Kontinente und Ozeane, sogar durch die Zeit.

Von: Antonio Pellegrino/Kirsten Böttcher

Stand: 10.06.2020 | Archiv

Aus dem neuen Buch von Stefano Mancuso, Professor für Pflanzenkunde und einer der führenden Autoren des »Nature Writing«, liest Christian Baumann in den radioTexten am Dienstag. Fotograf: Alessandro Moggi | Bild: Courtesy Fondazione Palazzo Strozzi / Fotograf: Alessandro Moggi

Stefano Mancuso, einer der führenden Pflanzenforscher und Bestsellerautor, verbeugt sich in seinem neuen Buch "Die unglaubliche Reise der Pflanzen" vor diesen erstaunlichen Erdenbewohnern. Lesung und Gespräch

Sie sind die eigentlichen Pioniere der Erde. Pflanzen sind Zeitreisende, Flüchtlinge, Heimkehrer, Kämpfer und Einsiedler, und das alles, ohne sich erkennbar zu bewegen. Dennoch verbreiten sich Pflanzen über Kontinente hinweg, transformieren seit fast 500 Millionen Jahren unseren Blauen Planeten in eine fruchtbare Erde. Am weitesten verbreitet auf dieser Weltkugel sind nicht Menschen, sondern Pflanzen, deren Intelligenz uns das Leben und Überleben überhaupt ermöglicht. Stefano Mancuso fängt in seinem neuen Buch "Die unglaubliche Reise der Pflanzen" all diese kleinen und großen Wunder ein, die das so oft von uns unterschätzte Grünzeugs tagtäglich und quer durch Zeiten und Kontinente vollbringt. Antonio Pellegrino hat mit dem in Florenz forschenden Biologen gesprochen.

Antonio Pellegrino:

"Obwohl die Pflanzen kein Gehirn haben, verfügen sie über eine gewisse Intelligenz, sie haben die Fähigkeit, untereinander zu kommunizieren, bilden Netzwerke."

Pflanzen unterlaufen unsere Konzepte von Nationen und Grenzen, von Begriffen wie fremd oder heimisch, so der Pflanzenforscher Stefano Mancuso.

Stefano Mancuso: "Unser Denken ist immer noch anthropozentrisch bestimmt. Wir denken, dass nur diejenigen Lebewesen, die ein Gehirn besitzen, auch intelligent sind. Wir tun so, als würde Intelligenz von einem bestimmten Organ abhängen.  Meiner Meinung nach ist diese Annahme falsch. Intelligenz bedeutet zunächst, die Fähigkeit, Probleme zu lösen. Auch im Hinblick auf die Evolution ist es schwer vorstellbar, an eine, wenn auch einfache Lebensform zu denken, die nicht fähig ist, Probleme in Angriff zu nehmen. Im Laufe ihrer Evolution haben die Pflanzen bewiesen, dass sie durchaus in der Lage sind, Probleme zu lösen. Und zwar tagtäglich. Aufgrund der Pandemie waren wir gezwungen, auf Reisen zu verzichten und unseren Wohnort nicht zu verlassen. Da sich Pflanzen immer in dieser Lage befinden und unbeweglich sind, haben sie außerordentliche Fähigkeiten und Strategien entwickelt, um reisen zu können. Und dies ist Beweis genug für ihre Intelligenz."

Antonio Pellegrino:

"Hängen wir immer noch an althergebrachten Thesen?"

Fast wäre die heute so beliebte Avocado ausgestorben. Wenn wir Menschen Tiere ausrotten, hat das Auswirkungen auf die Pflanzenwelt, so Mancuso.

Stefano Mancuso: "Wenn man sich wissenschaftliche Studien oder die Forschungsergebnisse der letzten zwanzig Jahre anschaut, wird man kaum das Wort Kommunikation oder den Begriff Verhalten finden. Geschweige denn das Wort Intelligenz. Das hat sich heute grundlegend geändert! Wir wissen, dass Pflanzen untereinander hervorragend kommunizieren und Informationen weitergeben können. Heute wissen wir, dass Pflanzen in der Lage sind, etwas zu lernen und das Erlernte auch zu speichern. Ebenso wissen wir, dass Pflanzen die Umwelt mit all ihren Geräuschen wahrnehmen. Und Pflanzen haben so etwas wie ein soziales Leben. Auch ändern sie ihr Verhalten je nach Gruppe oder Gemeinschaft, mit der sie in Verbindung treten. Mittlerweile liefern uns Pflanzen ein hoch entwickeltes, komplexes Bild ihres Daseins, das in Nichts dem der Tierwelt nachsteht, im Gegenteil! Davon sind viele Botaniker überzeugt. Um Probleme zu lösen, die sowohl in der Pflanzen- als auch in der Tierwelt vorkommen, haben die Pflanzen andere Lösungen gefunden als die Tiere."

Antonio Pellegrino:

"Steht der Wald für ein ausgeklügeltes Netzsystem?"

Stefano Mancuso: "Vor einigen Jahren haben wir den Wald noch als eine Ansammlung unterschiedlicher Pflanzenarten betrachtet, die ein eigenständiges Leben führten und kaum in Verbindung standen. Heute haben wir ganz andere Erkenntnisse. Der Wald ist ein Überorganismus, in dem jede Pflanzenart unterirdisch vernetzt ist. Durch diese Netze werden Informationen aber auch Nahrungsmittel und verschiedene Materialien ausgetauscht. Dies ist ein komplett neues Bild von der Pflanzenwelt, das sich von den althergebrachten Vorstellungen unterscheidet."

Antonio Pellegrino:

"Pflanzen sind unbeweglich. Und doch kommen sie überall an."

Stefano Mancuso: "Genau. Aufgrund ihrer Beschaffenheit und im Gegensatz zu Tieren und uns Menschen haben Pflanzen keine motorischen Fähigkeiten. Wenn sich etwas in unserer Umgebung ändert, sind wir Menschen in der Lage, unseren Standort zu wechseln, um einen besseren zu finden. Gezwungenermaßen mussten Pflanzen immer auf andere Methoden zurückgreifen, um zum Beispiel auf Klimaveränderungen zu reagieren. Sie sind auch widerstandsfähiger aus wir. Anders als Tiere sind sie viel resistenter gegen Hitze oder Kälte. Sie sind in der Lage, ziemlich schnell Wasser- oder Nahrungsmangel zu kompensieren. In all diesen Fällen haben es Tiere viel schwerer."

Zur Person

Der 1965 in Cantanzaro geborene Professor für Pflanzenkunde ist einer der führenden Autoren des "Nature Writing". Mancuso forscht und lehrt an der Universität Florenz. Er ist Direktor des Laboratorio Internazionale di Neurobiologia Vegetale (LINV, International Laboratory of Plant Neurobiology). Mit zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen gilt er international als einer der führenden Pflanzenforscher. Sein Buch "Die Intelligenz der Pflanzen" (Kunstmann, 2015) stand monatelang auf der Bestsellerliste.

Mancuso berichtet von der "Wiederbelebung" von 2000 Jahre alten Dattelpalmensamen in der Festung Masada nahe Jerusalem.

"Pflanzen sind das beste Beispiel für das, was wir heute Resilienz nennen - die Fähigkeit, sich den Veränderungen unserer Umwelt anzupassen. Wie gesagt, Pflanzen sind für die Dauer ihrer Existenz unbeweglich, aber durch ihre Samen sind sie über mehrere Generationen hinweg fähig, große, unglaubliche Reisen zu unternehmen. Aber nicht nur durch ihre Samen. Sie benutzen jedes ihnen zur Verfügung stehende Mittel: Es gibt Pflanzen, die "fliegende Samen" produzieren, die sich kilometerweit ausbreiten können. Es gibt Pflanzen, die "schwimmende Samen" produzieren, die sogar Ozeane durchqueren können. Und schließlich gibt es Pflanzen, die Tiere als Transport- und Fortbewegungsmittel nutzen. Die Samen klammern sich richtig fest an das Fell der Tiere! Man nennt sie Hitchhiker, Anhalter. Aber auch wir Menschen sind zur Ausbreitung von Pflanzen dienlich. Und auch eine schöne Frucht ist als Köder geeignet, damit Tiere Pflanzensamen transportieren."

Antonio Pellegrino:

"Mittlerweile spricht man von sogenannten invasiven Pflanzenarten, von Eindringlingen, die die Flora eines bestimmten Gebietes bedrohen."

Das italienische Nationalgericht? Die Tomate stammt ursprünglich aus Südamerika, das Basilikum aus Indien.

Stefano Mancuso: "Ich kenne das Problem sehr gut. Nicht nur in Italien spricht man darüber, sondern auf der ganzen Welt. Ich bin nicht damit einverstanden. Denn dieser Gedanke resultiert aus der Auffassung, dass Floren statische Elemente seien. Das heißt: Es gibt eine deutsche, eine italienische, eine spanische, eine französische Flora und so weiter. Aber das stimmt nicht. Pflanzen waren immer Reisende. Man kann sie nicht aufhalten. Das, was wir heute "deutsche Flora“ nennen, entspricht mit Sicherheit nicht der deutschen Flora von vor 2000 oder 10.000 Jahren. In tausend Jahren wird die deutsche Flora kaum Ähnlichkeiten mit der heutigen haben.

Diesen Gedanken über "Invasoren" habe ich stets mit einem Lächeln quittiert. Schauen Sie: Wenn man in Italien über "nationale Flora" spricht, dann denkt man sofort an bestimmte Pflanzen, z.B. an die Tomate, die zur Pasta, unserem Nationalgericht, gehört - genauso wie das Basilikum. Aber sie sind keine italienischen Pflanzen! Sie kommen aus ganz unterschiedlichen und sehr entfernten Gegenden - die Tomate aus Südamerika, das Basilikum aus Indien. Unsere Geschichte und die der Pflanzen sind untrennbar miteinander verbunden - und da meine ich nicht nur die Gewächse, die wir in der Küche benutzen. Pflanzen gehen selbständig auf Reisen, sie sind in der Lage, die Flora eines bestimmten Gebietes zu beeinflussen und zu verändern. Deswegen ist die Rede von einer "nationalen Flora" einfach nur Zeitverschwendung! Wenn wir über die Natur und die Pflanzenwelt sprechen, dann bedienen wir uns derselben Muster, mit denen wir über Menschen reden. Wir benutzen Begriffe wie "Invasoren", "Eroberer". Und diese Begriffe verwenden wir dann auch für die Pflanzenwelt und in der Biologie. Dort sind sie aber fehl am Platz."

"Die unglaubliche Reise der Pflanzen"

Schauspieler Christian Baumann

von und mit Stefano Mancuso

am 23. Juni um kurz nach 21 Uhr in den radioTexten auf Bayern2

Lesung: Christian Baumann

Im Gespräch: der Autor

Moderation und Redaktion: Antonio Pellegrino

Das Buch von Stefano Mancuso, aus dem Italienischen übertragen von Andreas Thomsen (Orig.: L‘incredibile viaggio delle piante) und ausgestattet mit Aquarellen von Grisha Fisher, ist bei Klett-Cotta erschienen.

Unsere Lesungen können Sie immer und überall nachhören: auf dieser Seite im Stream, als Download im Podcast-Center des Bayerischen Rundfunks und überall, wo es Podcasts gibt.


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