Bayern 2 - radioTexte


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"Tand" und nemo Jenny Erpenbeck lauscht der Großmutter

Die Großmutter in Jenny Erpenbecks Erzählung "Tand" gilt als Meisterin des Rezitierens klassischer Balladen und Gedichte, fasziniert Publikum und die Ich-Erzählerin gleichermaßen. Jenny Erpenbeck schildert poetisch und leise die Macht des Alterns: eine Lesung mit Isolde Barth. Im Anschluss: nemo - das literarische Ratespiel

Author: Kirsten Böttcher

Published at: 13-11-2020 | Archiv

Handschütteln einer älteren und einer jüngeren Hand | Bild: picture alliance/chromorange

"Tand, Tand
Ist das Gebilde von Menschenhand!"

(aus: Theodor Fontane, Die Brück’ am Tay, 1879)

Seine Ballade lieferte die Inspiration zur Erzählung "Tand": Theodor Fontane.

In Theodor Fontanes Ballade stürzt die aufwendig "von Menschenhand" geschaffene schottische "Brück' am Tay" ein, vom Sturm geschüttelt. Verglichen mit der Kraft der Natur bleibt Menschenhand eben nur Tand. Die Figur der Großmutter in Jenny Erpenbecks früher Erzählung "Tand" stemmt sich lange gegen die Kräfte der Natur, bis sie dann doch der Enkelin "verlorengeht". Aus dem Blickwinkel eines kleinen Mädchens erfährt man, das sie gern mehr gehabt hätte von der mächtigen Großmutter, der "Sprechmeisterin", die abends vor zahlendem Publikum auftritt und sich tagsüber in ihrem Arbeitszimmer verschanzt. Hinter diffusem Milchglas hört die Enkelin diverse fremde Stimmen aus der Großmutter herausbrechen, die sie faszinieren.

Jenny Erpenbecks Familie: Im Kreise von Schriftsteller*innen

"Dann gibt sie mir Sätze zu sprechen, legt mir dabei aber Steine in den Mund, damit die Zunge lernt, sich um jedes Hindernis herumzuwinden. Anfangs ersticke ich beinahe an diesen Übungen, (...) aber schließlich hört man kaum noch, wie der Kiesel beim Sprechen gegen die Zähne schlägt, und die Sätze erscheinen klar und deutlich, sei es nun südlich, nördlich, westlich oder östlich des Findlings, mit dem meine Großmutter mir den Mund gestopft hat."

(Tand, Jenny Erpenbeck)

Die Kunst des Rezitierens, der Schauspielerei, gibt die Großmutter an ihre Enkelin weiter, lässt sie auftreten, um dann selbst von der Bühne zurückzuziehen. Unaufhaltsam wird die Großmutter vom Alter, von Demenz eingeschlossen. Es liegt nahe, in "Tand" autobiografische Spuren von Jenny Erpenbeck zu lesen. Die gebürtige Ost-Berlinerin ist wie die Ich-Erzählerin in einer Künstlerfamilie aufgewachsen: Jenny Erpenbecks Mutter Doris Kilias war Arabisch-Übersetzerin, ihr Vater ist ein bekannter Physiker und Buchautor, ihr Opa Fritz schrieb Krimis und gründete die Zeitschrift "Theater der Zeit", ihre Großmutter Hedda Zinna schrieb u.a. Romane, war Schauspielerin und Film- und Hörspiel-Regisseurin, die 1994 verstarb. Das war vor dem literarischen Durchbruch ihrer Enkelin.

Unter den "Best Books of the 21st Century"

Zuletzt erschien von Jenny Erpenbeck "Kein Roman" im Penguin Verlag.

1999 debütierte Jenny Erpenbeck mit der Novelle "Geschichte vom alten Kind". Es folgten zahlreiche Veröffentlichungen, darunter Romane, Erzählungen und Theaterstücke, die mittlerweile in 30 Sprachen übersetzt wurden. Ihr Roman "Aller Tage Abend" wurde von Lesern und Kritik gleichermaßen gefeiert und vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Independent Foreign Fiction Prize. Für "Gehen, ging, gegangen" erhielt sie u.a. den Thomas-Mann-Preis. 2017 gewann Jenny Erpenbeck den Premio Strega Europeo und wurde mit dem Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Ihr Roman "Heimsuchung" setzte der "Guardian" im vergangenen Jahr auf die Liste „100 Best Books of the 21st Century“. Jenny Erpenbeck lebt mit dem Dirigenten Wolfgang Bozic und ihrem gemeinsamen Sohn in Berlin.

"Tand" und nemo

Im Anschluss an die Lesung am 24. November folgt nemo - das literarische Ratespiel mit Elisabeth Tworek und Andreas Trojan sowie neuem Hörerrätsel!

Moderation und Redaktion: Antonio Pellegrino

Der Erzählungsband "Tand" ist bei Eichborn erschienen.

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